Das Geisterdorf
Flughafen frisst Häuser: Kursdorf im Norden von Leipzig war mal eine idyllische Gemeinde. Bis der 200-Seelen-Ort eingekesselt wurde – von den Landebahnen des Flughafens Leipzig/Halle, einer ICE-Strecke und dem Schkeuditzer Autobahnkreuz. Die Menschen gingen, die Häuser verfielen. Kursdorf hat heute nur noch zehn Bewohner. Besuch in einem fast toten Dorf.
Kursdorf ist eine Insel im Flughafen
Bis 2003 leben in Kursdorf etwa 200 Einwohner. Anfang der 2000er-Jahre steht fest: Der Flughafen Leipzig/Halle wird das europäische DHL-Drehkreuz. Zuerst wird eine Piste im Norden gebaut, 2005 verlängert der Airport die südliche Landebahn auf 3600 Meter. Es gibt kein Nachtflugverbot, sodass die DHL dort in den Nachtstunden Fracht umschlagen kann. Die Lärmbelastung für die Kursdorfer ist enorm. Die Höchstgrenze von durchschnittlich 58,7 Dezibel wird ständig überschritten. Auch Schallschutzfenster und verstärkte Außenwände helfen da nicht viel. Der Flughafen investiert Millionen darin, den Krach erträglich zu machen. Trotzdem nutzen viele Bewohner nach und nach das Angebot, freiwillig umzusiedeln.
Die Häuser und Grundstücke gehen dann in den Besitz des Flughafens über. Im Gegenzug bekommen die Kursdorfer ein neues Grundstück plus Haus in Schkeuditz. Für ihr altes Haus berechnete der Flughafen allerdings einen Zeitwert. Nur diese Summe wurde den Kursdorfern ausgezahlt. Seit 2008 ist der Großteil der Einwohner weggezogen, nach Altscherbitz. Die neue Siedlung wird auch Neu-Kursdorf genannt. Aktuell leben laut Melderegister der Stadt Schkeuditz noch zehn Bewohner in Kursdorf. Doch der Exodus hält an. Schon bald wird nur noch eine ältere Dame im Ort wohnen. Martha Höpfner ist dann die letzte Einwohnerin des verlassenen Dorfes.
Die Einwohnerentwicklung
1900 - Kurz vor Beginn der Industrialisierung
1947 - Flüchtlinge aus dem Osten sind da
2006 - Die massenhafte Umsiedelung beginnt
2015 - Die letzten Mohikaner
Die Bewohner von Kursdorf
Die Sicht des Flughafens
Der Ausbau des Flughafens Leipzig/Halle wurde Kursdorf zum Verhängnis. Seit 1991 investierte der Airport rund 1,9 Milliarden Euro in den Standort. Außerdem baute die Posttochter DHL ihr Drehkreuz mit tausenden Mitarbeitern auf. Kursdorfer, die den Fluglärm nicht länger ertrugen, konnten wegziehen. Ihre Grundstücke übernahm der Flughafen. Als Ersatz wurden den Bewohnern andere Grundstücke in Schkeuditz angeboten. Flughafensprecher Uwe Schuhart spricht über die kontinuierliche Erweiterung des Airports – und die Folgen für die Kursdorfer.
Der Verfall von Kursdorf – eine Bilderstrecke
Manche der leer stehenden Gebäude nutzte das Sondereinsatzkommando der sächsischen Polizei für Übungen.
Streunende Katzen laufen durch das verlassene Dorf. Sie wurden von ihren Besitzern nach dem Umzug zurückgelassen.
Der Abriss erfolgte vor allem, „um Vermüllung und Vandalismus vorzubeugen“, sagt Flughafensprecher Uwe Schuhart.
Die Freiwillige Feuerwehr Kursdorf existiert noch weiter als Traditionswehr. In dem Vereinshaus, das der Stadt gehört, steht noch Technik im Feuerwehrhaus, die aber bald abgeholt werden soll.
In Kursdorf gab es mal zwei Spielflächen für Volleyballturniere, einen Schotter- und einen Beachvolleyballplatz. Reste davon kann man noch erahnen, die Spielflächen sind überwuchert von Gras.
Auf der Straße vor der Kirche lieferte sich Tom Weber mit seinen Kumpels Roller-Rennen, auf dem zugewucherten Teich lief er im Winter Schlittschuh
Das ehemalige Friendly-Hotel am Flughafen will der Landkreis für eine halbe Million Euro kaufen und dort 70 Asylbewerber unterbringen.
Die Sicht der Stadt
Der ehemalige Bürgermeister von Kursdorf Manfred Heumos (CDU) erlebte mit, wie die Bewohner den Ort verließen. Auch er lebt heute in der Siedlung Altscherbitz, die auch „Neu-Kursdorf“ genannt wird. Der Rentner hat Verständnis, dass die wirtschaftliche Entwicklung der Region Vorrang hat und sagt: „Der Ort war dort falsch.“ Der Schkeuditzer Stadtsprecher Helge Fischer sieht das ähnlich. Die Umsiedelung sei alternativlos gewesen.
Rückblick: Die Geschichte des Ortes im Zeitstrahl
Eine architektonische Besonderheit: die Feldsteinkirche
Die 700 Jahre alte denkmalgeschützte Feldsteinkirche von Kursdorf ist ein „Kleinod aus Findlingen, Sandstein und Porphyr“, sagt Pfarrer Axel Meißner. Sie zählt zu den ältesten Gotteshäusern des Kirchenkreises. An der Südseite finden sich zwei Jahreszahlen: Die Zahl 1310 weist vermutlich auf die erste urkundliche Erwähnung des Ortes „Cursdorf“ hin. Wahrscheinlich errichteten deutsche Kolonisten in dem sorbisch geprägten Gebiet damals eine Holzkirche. 1345 wurde vermutlich die jetzige Steinkirche erbaut, nachdem der Vorgängerbau abgebrannt war.
Die architektonische Besonderheit: Der Kirchturm weist nach Osten, in den meisten Kirchen findet er sich auf der Westseite. Gut erhalten sind auch der barocke Kanzelaltar von 1777 und die auf der Empore stehende kleine restaurierte Orgel aus der Werkstatt des Zörbiger Orgelbauers Wilhelm Rühlmann. Im Turm hängt noch eine von ursprünglich drei mittelalterlichen Glocken. 2001 wurde die Kirche umfassend saniert. Bei der letzten Christvesper 2015 erlebte sie einen Besucheransturm. 60 Leute kamen in das nur für 45 Besucher ausgelegte Gotteshaus.
Lust auf noch
mehr Kursdorf ?
Michael Schwarz drehte für seinen Abschluss der Filmklasse der Kunsthochschule Mainz 2010 einen Dokumentarfilm über den Ort. Ein Stück Erinnerung an ein einst lebendiges Dorf, das zur Geisterstadt avancierte.
Text, Recherche und Konzeption: Gina Apitz, Fotos und Videos: Dirk Knofe, Volmar Hartung (vol-h-art.de), Grafik und Animation: Patrick Moye