Weißes Gift – Sachsen und sein Crystal-Problem

Es macht wach, leistungsfähig und euphorisch: Crystal ist in Sachsen auf dem Vormarsch. Immer mehr Menschen im Freistaat bewältigen ihren Alltag nur noch mit dem Aufputschmittel, das Körper und Psyche enorm schädigt. Was macht die Droge mit ihren Konsumenten? Für wie gefährlich halten Psychologen und Chemiker die Substanz? Und wie geht die sächsische Polizei mit dem Thema um? Wir haben nachgefragt bei Crystal-Abhängigen, Sozialarbeitern, Ärzten und dem Landeskriminalamt.

Welche Rolle spielt Crystal in Sachsen?

Die Animation gibt Antworten

„Ich sah aus wie der Tod persönlich“ 

Crystalabhängige berichten von ihren Versuchen, von der Droge loszukommen.

„Ich hab es allein angefangen, also muss ich auch allein rauskommen“ – Micha will ohne Hilfe von außen clean werden.

Crystal – das sei einfach „ein gutes Gefühl“, sagt Micha, 24 Jahre alt, Nasenpiercing, Bart, ein paar Pickel auf der Stirn. Ein nervöser junger Mann aus Plauen im Vogtland, der seit zwei Jahren in Leipzig lebt und nur seinen Vornamen verrät. Mit 17 oder 18 hat er den Stoff das erste Mal ausprobiert und war von der Wirkung begeistert: „Man ist munter, topfit, voller Tatendrang.“ Ein halbes Gramm reichte mal drei Tage, mal eine Woche. Anfangs zog er nur hin und wieder eine Line, hatte seinen Konsum scheinbar im Griff.

Einmal kaufte er gestrecktes Crystal, erzählt er, dreieinhalb Gramm für 280 Euro. „Ziemlich teuer, aber Abfall.“ Er merkte es daran, dass der Stoff im Rachen blieb, aus der Nase wieder herauslief – und keine Wirkung zeigte. Meistens zog er sich die Kristalle rein, bevor er auf Pegida oder Legida-Demos ging, um schmerzunempfindlich zu sein. Die Droge verstärkte seine Aggressionen. Micha war immer wieder in Prügeleien verstrickt. Dreieinhalb Jahre saß er deshalb im Gefängnis in Regis-Breitingen – wegen Landfriedensbruch und gefährlicher Körperverletzung. Die Haft überstand er mit Crystal, das auch dort kursierte. Danach sollte Schluss sein. Ein Neunanfang nach seiner Entlassung 2014. „Ein halbes Jahr hat es gedauert, dann war ich wieder in meinem Sumpf drin und dann tiefer denn je“, sagt er.

Zuletzt zog er sich die Substanz jeden Tag durch die Nase. „Ich sah aus wie der Tod persönlich, hat man mir erzählt.“ Er selbst
nahm seinen schlechten Zustand nicht wahr, merkte nur, dass er durch den Schlafmangel – er war teilweise zwei Wochen am Stück wach – Halluzinationen und Verfolgungswahn bekam. Einmal dachte er, dass Kinder aus seiner Waschmaschine klettern. „Eines Tages hatte ich so einen krassen Film, dass ich dachte, alle Leute reden nur über mich.“

„Das Ding in den Griff kriegen.“

Die Wahnvorstellungen verängstigten Micha: Er versuchte erneut einen Schlussstrich setzen. Zu Silvester vergangenen Jahres wollte er das letzte Mal high sein. Er dachte: „Jetzt muss ich langsam mal das Ding in den Griff kriegen.“ Doch die guten Vorsätze hielten nicht an. Micha versucht bis heute, von dem Stoff wegzukommen, doch er hat immer wieder Rückfälle. Er sagt, er erinnert sich oft an die guten Zeiten auf Crystal und hat dann Lust, wieder etwas zu nehmen. Und: Er will es ohne Hilfe schaffen. „Ich hab es allein angefangen, also muss ich auch allein rauskommen.“ Mit einem Psychotherapeuten will er nicht reden, „weil der das nur vom Hörensagen weiß und davon keine Ahnung hat“.

Anteil der Beratungen in Suchtzentren zu Crystal

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Leipzig

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Dresden

Im Begegnungszentrum „Blaues Café“, einem Anlaufpunkt für Drogensüchtige in der Leipziger Georg-Schumann-Straße  leistet er vormittags Arbeitsstunden ab, am Nachmittag sitzt er vor dem Fernseher, geht ins Fitnessstudio. „Man hat sich viele Muskeln herunter gecrystelt, es ist schwierig die wieder aufzubauen“, sagt er. Micha würde gern wieder Geld verdienen, sein Leben wieder mehr in den Griff kriegen. Er hat mal eine Ausbildung als Lagerist angefangen, die durch die Haftstrafe unterbrochen wurde. Die meiste Zeit war er arbeitslos. Derzeit sucht er nach einem neuen Job. „Rumhartzen ist nicht mein Style.“ Micha hat sich vorgenommen: Für die richtige Frau würde er aufhören. Bis dahin, sagt er, bleibt erstmal alles beim Alten: „Wenn mir mal danach ist, dann ziehe ich eine Line.“

Die UN schätzt, dass es weltweit 24 Millionen Crystal-Konsumenten gibt.

„Ein Rückfall auf die Fresse“ – Crystal hat Renés wichtigstes Organ zerstört: Er braucht ein neues Herz.

René will nur seinen Vornamen nennen. Wir sollen schreiben, dass er aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Leipzig kommt. Er ist 36 Jahre alt und Frührentner. Crystal hat sein Herz so stark geschädigt, dass er ein neues braucht. „Eine harte Nummer“, sagt er. René – müde Augen, Dreitagebart, die Haare zum Zopf gewurschtelt – sitzt in einem Raum des Blauen Cafés. Draußen knattern Autos über den löchrigen Asphalt, drinnen kochen die Besucher gerade ihr Mittagsessen selbst. Heute gibt es Kartoffelsuppe.

Auch René stand gerade noch am Herd, jetzt erzählt er nebenan von seinem Crystalkonsum. Vor zehn Jahren zieht er die erste Line durch die Nase, zum Feiern. Ein Gramm reicht, um das ganze Wochenende durchgängig wach zu sein – und vor allem gut drauf. „Man ist lebhafter, schaltet die negativen Sachen im Kopf aus“, beschreibt er die Wirkung der Droge. Später nimmt der gelernte Bürokaufmann den Stoff regelmäßiger. Bekannte verkaufen ihm das Gramm für 60 Euro. „Es gehörte zum Frühstück dazu“, sagt René. Statt Kaffee eine Line Crystal. So einfach ist das. Ein Gramm pro Woche. Die Droge macht ihn fit für den Job in einem Fotostudio bei Leipzig. Am Wochenende Plakate kleben, in der Woche fotografieren. René schafft alles. Er spürt keine Müdigkeit, arbeitet wochenlang durch.

Dann zieht er zurück nach Leipzig, snieft die Kristalle immer häufiger, fängt an in einer Gießerei zu arbeiten. Schichtbeginn: vier Uhr morgens. „Ich bin kein Frühaufsteher.“ Pünktlich da zu sein, das schafft er nur mit Crystal. Sein Freundeskreis teilt sich. Es gibt die, die auch konsumieren und die, die damit nichts zu tun haben wollten. „Meine alten Freunde haben sich abgewendet.“

Nach einem Arbeitsunfall verliert René seinen Job. Er hat plötzlich viel Zeit, schiebt seine Probleme vor sich her, rutscht tiefer in die Drogenszene, kommt mit seinem Leben nicht mehr zurecht. „Es war alles scheiße“, beschreibt er diese Zeit. Wenn die Wirkung des Crystals nachlässt, schläft er manchmal drei Tage lang durch. Irgendwann verliert er seine Wohnung, kommt bei Bekannten unter. Eigentlich kann er sich die Droge nun nicht mehr leisten. „Da bin ich dann klauen gegangen.“ Mit den Kumpels zusammen habe er „viel Scheiße gebaut“, sei auch verarscht worden.

Im Spätsommer vorigen Jahres will René einen Schlussstrich ziehen, versuchen, aus eigener Kraft von der Droge wegzukommen. Er zieht nach Dresden, sucht sich einen neuen Job, löscht das Telefonbuch seines Handys. „Ich war ziemlich rigoros“, sagt er rückblickend. Drei Monate geht es gut. Im Januar dieses Jahres zieht er sich wieder Stoff durch die Nase – ein Rückfall mit krassen Folgen. Als er einen Freund im Krankenhaus besucht, klappt er dort zusammen. Neun Tage liegt er auf der Intensivstation, verbringt danach weitere vier Wochen in der Klinik. Die Diagnose: eine verschleppte Herzmuskelentzündung. Das lebenswichtige Organ ist dreimal so groß, wie es sein sollte und durch die Droge schwer geschädigt. „Das war ein Rückfall auf die Fresse“, sagt René.

Wie wirkt Crystal?

Bei gleicher Dosis ist Crystal zehn Mal wirksamer als Amphetamin. Die Droge führt dazu, dass das Gehirn körpereigene Botenstoffe wie das Glückshormon Dopamin und Noradrenalin ausstößt, das den Herzschlag steuert. Außerdem setzt der Körper Adrenalin frei. Crystal-Konsumenten fühlen sich euphorisch und aufgeputscht, empfinden weder Hunger noch Durst, Müdigkeit oder Schmerzen. Außerdem steigert die Substanz das Redebedürfnis, den Bewegungsdrang und das Verlangen nach Sex. Gleichzeitig hat die Droge krasse Nebenwirkungen, unter
anderem starker Juckreiz, Schweißausbrüche, Schwindel, Zittern, Muskelkrämpfe und Herzrasen. Bei regelmäßigem Konsum kann Crystal Psyche und Körper enorm schädigen: Abhängige kämpfen mit Schlafstörungen, Magenschmerzen, Depressionen, Panikattacken und Angstzuständen. Da Crystal die Nervenzellen tötet, lässt auch die Merkfähigkeit nach. Weitere Folgen: Herzrhythmusstörungen und Nierenschäden.

Doch die Sucht ist stärker als seine Vernunft: Er schnupft weiter Crystal, landet wieder im Krankenhaus. „Keine Familie, keine Freunde – war doch egal“, sagt er. Am 4. April zieht er die letzte Line, danach kann er nicht mehr atmen, fünf Wochen verbringt er im Herzzentrum. Ein Oberarzt warnt ihn: „Wenn Sie das Leben satt haben, dann konsumieren sie noch ein einziges Mal.“ René sagt: „Das hat mir die Augen geöffnet.“

Nach dem letzten Krankenhausaufenthalt wird er direkt in eine Suchtklinik verlegt. In ein paar Wochen fängt er eine weitere Therapie in einer Klinik in der Nähe von Dresden an. Er will raus aus Leipzig, weg von den alten Kumpels. René sagt, im Moment falle es ihm nicht schwer, auf das Zeug zu verzichten. „Im Moment liebe ich es jeden Abend ins Bett zu gehen – ehrlich.“
Schließlich weiß er: Zieht er sich die Kristalle doch wieder durch
die Nase, könnte es das letzte Mal gewesen sein. Er will wegkommen von der Droge, die seinen Körper zerstört hat. Und er wartet – auf ein Spenderherz.

Im Verhältnis zum Bundesdurchschnitt ist der Anteil des Crystal-bezogenen Hilfebedarfs in Sachsen um das Vierfache höher.

„Ich hab mich einsam gefühlt“ – Anne Baumann nahm Crystal, um nicht mehr allein zu sein.

Beim ersten Mal ist sie 14. Es ist Wochenende, ihre Freunde sind da. Sie rauchen Joints. Einer hat ein bisschen Crystal dabei. „So fing das an“, sagt Anne Baumann und knetet dabei die Kaffeetasse in ihren Händen. Ihren richtigen Namen will sie nicht nennen, auch kein Foto bitte. Das Gespräch findet in einem Leipziger Suchtberatungszentrum statt. Baumann ist heute 29 Jahre alt, Mutter eines siebenjährigen Sohnes – und seit fast zwei Jahren clean. Es fällt ihr trotzdem schwer, über ihre Drogensucht zu sprechen, die viele Jahre ihr Leben bestimmt hat und es bis heute tut.

Baumann wächst in einem Heim in Chemnitz auf. Eines Tages rennt sie davon, schlägt sich eine zeitlang auf der Straße durch, pfeift auf einen Schulabschluss. Ein Leben ohne Plan, ohne Perspektive. Heute sagt sie über ihren Freundeskreis, dass er „nicht ordentlich“ gewesen sei. Und meint: Alle nahmen irgendwas. Auch Anne Baumann. Wenn sie Crystal durch die Nase zog, war das „ein gutes Gefühl“. Was die Droge in ihr ausgelöst hat, will sie nicht im Detail beschreiben. „Ich will mich nicht heiß reden, das wäre nicht von Vorteil.“ Über ihre positiven Erfahrungen mit der Substanz möglichst nicht zu sprechen, das hat sie in der Therapie gelernt.

Erst nimmt sie die Kristalle nur einmal im Monat, dann regelmäßiger. Vorwiegend am Wochenende, „zum Party machen“. „Es hat sich so eingeschlichen.“ Als sie schwanger wird und ihr Sohn zur Welt kommt, pausiert sie drei Jahre lang. Doch dann ist die Verlockung zu groß und sie fängt wieder damit an, landet irgendwann sogar im Gefängnis. Warum, will sie nicht sagen.
Nur soviel: Die Freiheitsstrafe hatte mit ihrem Crystal-Konsum zu tun. „Da hab ich das erste Mal gemerkt, dass ich nicht mehr klar komme“, sagt sie heute. Ihr Sohn lebt seit ihrer Haftstrafe bei seinem Vater.

Anne Baumann trifft für sich eine Entscheidung: Es muss sich etwas ändern. Nach ihrer Entlassung wechselt sie den Wohnort, zieht nach Zwickau. „Ich hab mich sehr einsam gefühlt“, erinnert sie sich. Zwei Monate bleibt sie clean, dann folgt der Rückfall, schlimmer denn je: In dieser Zeit übersteht Anne Baumann den Tag nur noch auf Crystal. Die körperlichen Folgen bemerkt sie kaum, bis zu dem Tag, als sie eine Art epileptischen Anfall erleidet. „Das war sehr heftig“, berichtet Baumann. Erst da begreift sie: „So geht es nicht weiter.“ Die junge Frau sucht Hilfe, bekommt einen Therapieplatz in einer Suchtklinik. Acht Monate verbringt sie auf der Station, schafft es, clean zu bleiben. „Unter der Glocke funktionierte das“, sagt sie. Ihre größte Sorge: Was passiert danach?

Schadenspotential von Substanzen nach dem britischen Psychiater David Nutt von maximal 100 Punkten

Alkohol

Heroin

Crystal

Cannabis

Heute wohnt Anne Baumann in einer drogenfreien Wohngemeinschaft in Leipzig, einer so genannten Clean-WG. Sie will sich ein neues Leben aufbauen, wieder mehr Kontakt mit ihrem Sohn haben. Sie sagt, sie fühlt sich oft verwirrt und weint viel. Dreimal pro Woche arbeitet sie in dem Suchtzentrum. Treppe kehren, in der Holzwerkstatt basteln, etwas kochen – all das soll ihrem Leben eine Struktur geben. An der Abendschule holt Baumann ihren Realschulabschluss nach, den Hauptschulabschluss schaffte sie schon während der Reha. Ihr größtes Ziel: eine Ausbildung zur Sozialassistentin. Es ist das erste Mal in ihrem Leben, dass Anne Baumann Erfolge erlebt, das Gefühl, etwas auf die Reihe zu bekommen.„Mein Sohn und meine Familie geben mir Halt“, sagt sie. Zwei Jahre lang war der Kontakt zu ihren Verwandten unterbrochen.

Inzwischen hat sich das Verhältnis gebessert, auch ihren Sohn sieht sie jetzt wieder regelmäßiger. „Ohne meine Familie hätte ich die Sucht nicht überwunden.“ Hinter sich gelassen hat Anne Baumann die Droge aber längst nicht. Immer wieder packt sie das Verlangen nach dem Stoff. Sie sagt: „Es zieht schon manchmal. Es ist eben eine Sucht. Auch wenn du das ablegen willst, kannst du das nicht so, wie du willst.“ Ihr geregelter Alltag lenkt sie von dem Gedanken an Crystal ab. Wenn sie sich einsam fühlt, ruft sie eine Freundin an, die ebenfalls clean ist. Eine von wenigen sozialen Kontakten, die ihr geblieben sind. Anne Baumann sagt, dass das Verlangen nach der Droge abnehme. Seit 2015 ist sie clean. Sie glaubt, dass sie es schaffen kann.

Crystal ist mit 64 Prozent die vorherrschende Substanz unter den illegalen Drogen in der stationären Suchtbehandlung in Sachsen.

Ein ganz schöner Batzen Geld“ – Daniel Volkmann dealte jahrelang mit Crystal und verdiente gut daran.

Dass das Freiheitsgefühl, das er auf Crystal spürt, scheinheilig ist, bemerkt Daniel Volkmann erst sehr spät. Damals, als er mit den Drogen anfängt, da hat er sich frei gefühlt, „wie ein Vogel“, sagt er und es schwingt kein Pathos mit in seiner Stimme. Wer mit dem 38-Jährigen heute über seine Drogensucht spricht, erlebt einen gebrochenen Mann. Einen, der mit leiser, vernuschelter Stimme über seine Vergangenheit redet und dabei Worte wie „polytoxisch“ benutzt. Man kann sagen, dass Daniel Volkmann ein krasser Fall ist. Er zog sich seit den Neunzigern so ziemlich jede Droge rein, die es gab: Cannabis, Koks, Speed, LSD, Heroin, Alkohol und Crystal. Der Giftcocktail, dem er sich über Jahre aussetzte, hat ihn psychisch zerstört.

Mit 16 zieht er das erste Mal Crystal durch die Nase. Volkmann wächst im thüringischen Altenburg auf. Als DDR-Kind ist er nach der Wiedervereinigung vor allem eines: neugierig. „Nach der Wende war alles offen“, erinnert er sich. Der gelernte Möbelschreiner probiert alle Substanzen, die seine Freunde beschaffen. Es ist für ihn Teil der Suche nach sich selbst. „Rechts, links, neutral, ein Hippie – ich musste herausfinden, wo ich hingehöre.“ Crystal schnupft er damals zuerst am Wochenende, als „Partylaune“, dann immer häufiger auch tagsüber. Die Drogen und Mengen variieren. Volkmann nimmt, was gerade da ist. Heute sagt er: „Mein Körper brauchte das Gift.“ An all die illegalen Substanzen heranzukommen, sei kein Problem gewesen. „Es war so leicht zu kriegen wie ein Stück Brot.“

„Die Polizisten brauchten den Stoff“.

Sein Cousin aus Mittweida verkauft in den Neunzigern Crystal im größeren Stil. Irgendwann steigt Volkmann ins Geschäft ein, vertickt die Kristalle in Diskotheken und Underground-Clubs in Altenburg. Auch Anwälte und angehende Polizisten gehören zu seinem Kundenkreis, behauptet er. „Die brauchten den Stoff“. Obwohl er nur kleine Mengen verkauft, wird das Dealen zunehmend lukrativ. „Manchmal hab ich schon einen ganz schönen Batzen Geld einstecken gehabt“, sagt er. Mit dem Geld geht Volkmann feiern, finanziert seinen eigenen Drogenkonsum. Einen Job braucht er nicht mehr, einige Jahre lebt er komplett vom Crystal-Verkauf.

Daniel Volkmann spricht im Video über seine Zeit als Drogendealer.

Hatte er nie Angst, erwischt zu werden? Volkmann schüttelt den Kopf, als sei das eine abwegige Frage. Irgendwann fliegt er mit seinem Cousin und ein paar Kumpels nach Spanien, drei Monate verbringen sie am Strand, verprassen das Drogengeld. Ein kleines Lächeln huscht über Volkmanns Gesicht, als er davon erzählt. Ansonsten ist seine Miene nahezu versteinert.Besondere die Wirkung von Crystal erlebt er positiv. Der Tatendrang, die fehlende Müdigkeit all das gefällt ihm. Einmal ist er 14 Tage am Stück wach, erzählt er. Die Folgen der Droge holen ihn erst nach Jahren ein. Er hört mit dem Dealen auf, „weil ich psychisch angefressen und depressiv war“.

Der Substanzenmix lässt ihn paranoid werden, er hat Wahnvorstellungen. Zwischenzeitlich verzichtet er auf die chemischen Drogen, kifft nur noch, trinkt umso mehr Alkohol. Ans Aufhören denkt er nicht. Irgendwann gibt er seinen Führerschein freiwillig bei der Fahrschule ab. Ein Hilferuf? Es lässt sich schwer sagen. Seine Familie weiß von dem Drogenkonsum. Der Vater hofft auf
eine Entgiftung. Die Mutter stirbt 2001. Danach zieht sich Volkmann noch mehr von allem rein. Bis er nicht mehr kann. 2004 beginnt er seine erste Therapie.
Drei hat er inzwischen hinter sich. Ärzte in Bad Klosterlausnitz, Leipzig und Zittau haben versucht, ihm dabei zu helfen, von den Drogen wegzukommen. Mit unterschiedlichem Erfolg. Seit zwei Jahren ist Volkmann berentet – wegen seines Drogenkonsums.

Seit April vergangenen Jahres wohnt er
wieder in Leipzig. Er hilft ehrenamtlich in einer Begegnungsstätte für Wohnungslose, kommt regelmäßig ins „Blaue Cafe“, um mit den anderen Besuchern gemeinsam zu kochen. Sein Verhältnis zum Vater hat sich gebessert.
Aktuell nimmt er keine Drogen, dafür hat er sich neulich mal wieder betrunken. Wenn das Verlangen nach Crystal kommt, läuft er draußen herum, sagt er. Das letzte Mal richtig high war er im Sommer 2015. Er wollte mal wieder eine Nacht wach sein.

„Irgendwann bricht jeder zusammen“ 

Drogenberater Daniel Graubaum

Daniel Graubaum erklärt im Video die Gründe für Crystal.

„Drug Store“ steht über der Eingangstür des Büros der Leipziger „Drugscouts“. Illegale Substanzen sucht man hier vergeblich, dafür bekommen Interessierte jede Menge Infos darüber. Um Aufklärung geht es den Mitarbeitern des  so genannten Drogeninformationsprojekts. Sie wollen nicht belehren, sondern erklären und beraten. Drinnen sieht es aus wie ein einem Jugendclub: schwarze, abgeschrammelte Sofas, eine grün bemalte Theke, Kartons voller Flyer. An einem Holztisch sitzt Daniel Graubaum, 39 Jahre alt, Glatze und Ziegenbärtchen.

Der Sozialarbeiter kennt sich aus mit allen Arten von Drogen. Alle paar Wochen fragen ihn Leute, ob sie zu viel von einem bestimmten Stoff nehmen oder wie lange er sich nachweisen lässt. Auch Angehörige und Lehrer bitten um Ratschläge, wie sie mit dem Thema umgehen sollen. Viele melden sich am Drogentelefon, das die „Drugscouts“ betreiben. Ein Dauerbrenner: Crystal Meth. „Viele Leute merken, dass sie vom reinen Freizeitkonsum nicht mehr loskommen“, berichtet Daniel Graubaum und zählt dann die typische Wirkung des Aufputschmittels auf: Wer Crystal nimmt, ist glücklich, leistungsfähig, selbstbewusst.

Was die Droge so gefährlich macht: Um high zu sein, genügen schon geringe Mengen. „Für den Wachheitskick reichen ein Dreißigstel oder Zwanzigstelgramm“, weiß Graubaum. Mit einer mittleren Dosis von einem zehntel Gramm seien viele den ganzen Tag über hellwach und  können abends nicht einschlafen.  Dauerkonsumenten nehmen im Schnitt bis zu zehn Gramm die Woche. Für junge Leute sei es zudem kein Problem, an die Droge heranzukommen. „Jeder Jugendliche kennt jemanden, der jemanden kennt, der ihm was verkauft“, spricht Graubaum aus Erfahrung. Und: Crystal ist eine billige Droge. „Bei uns in Sachsen kostet sie kaum etwas“, sagt der Experte. Zwischen 20 und  70 Euro bezahle man hier für ein Gramm des kristallinen Pulvers.

Zum Vergleich: Ein Gramm Kokain kostet je nach Qualität in Sachsen auf der Straße zwischen 70 bis 100 Euro. Um dieselbe Wirkung wie bei Crystal zu erzielen, müsse man sich aber deutlich mehr durch die Nase  ziehen, so Graubaum. Der Sozialarbeiter will die Droge nicht glorifizieren,  beschreibt die verbundenen Gefahren aber weniger dramatisch als Kollegen aus Leipziger Suchtberatungszentren: „Es macht nicht beim ersten oder zweiten Mal prinzipiell abhängig“, sagt er zum Beispiel.

Daniel Graubaum spricht im Video über Crystal-Preise.

Wer eine gefestigte Persönlichkeit habe, mitten im Leben stehe, der habe kein so hohes Abhängigkeitsrisiko. „Wer alle sechs Wochen Crystal nimmt, wird sich damit nicht unbedingt ein Problem heranzüchten.“ Drei bis sechs Wochen brauche der Körper, um sich nach dem Rausch zu regenerieren. Dennoch könne die Droge auch in geringer Menge zu psychischen Schäden führen.

Abschreckende Horror-Fotos von apathisch dreinblickenden Menschen mit verfärbten Zähnen und schlechter Haut, die vor einer Weile in den USA in einer Anti-Crystal-Kampagne eingesetzt wurden, hält er für irreführend. „Niedrig dosiert kann man die Substanz über Jahre nehmen, ohne so auszusehen.“

Problematisch sei es, wenn die Droge in kürzeren Abständen konsumiert und zu stark in den Alltag integriert werde. „Dann, wenn jemand keine Alternativen weiß, wie er morgens aus dem Bett kommt.“ Gefährlich sei Crystal vor allem für depressiv veranlagte Menschen und solche, die mit ihrer Arbeit, ihrem Alltag überfordert seien. „Crystal ist dann ein Mittel, um diese Defizite auszugleichen.“ Als gelernter Krankenpfleger weiß Graubaum auch um die Folgen, die langjähriger Konsum mit sich bringt. Auf Dauer sei es enorme Belastung für das Nervensystem und auch psychisch anstrengend. „Crystal lässt einen schneller altern.“ Denn im Grunde, erklärt Graubaum, laufen Körper und Geist permanent auf Hochtouren und verbrauchen viel mehr Energie als im normalen Zustand. „Irgendwann bricht jeder zusammen“, sagt der Sozialarbeiter. „Die meisten brauchen dann eine längere Auszeit.“

Breaking Meth

Breaking Meth ist ein Online-Selbsthilfeportal für Crystal-Konsumenten, das vor zwei Jahren vom Zentrum für interdisziplinäre Suchtforschung in Hamburg ins Leben gerufen und bisher vom Bundesgesundheitsministerium finanziert wurde. In einem Chat-Room können sich Crystal-Abhängige austauschen und von den Erfahrungen der Ex-Konsumenten profitieren, die bereits eine Therapie hinter sich haben. Die Plattform soll vor allem Aussteigern helfen. Die Drugscouts moderieren die Diskussion, geben aber keine Ratschläge. Aktuell nutzen etwa 500 Teilnehmer den Chat. Das Ziel des Projekts: Die Community soll sich irgendwann selbst verwalten.

Die Phasen der Sucht

Peter Batura ist Psychotherapeut bei der Leipziger Suchtberatungsstelle „Impuls“. Crystal sei durch ihr hohes Suchtpotenzial eine sehr gefährliche Droge , sagt der 54-Jährige. „In Sachsen ist sie unter den illegalen Drogen das Hauptproblem.“ Batura erklärt, welche Phasen Crystal-Abhängige in der Regel durchlaufen.

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Phase 1: Das Hochgefühl

Crystal erzeugt zunächst starke Glücksgefühle. „Man fühlt sich stark, präsent, hat keinen Hunger, kann Party machen das ganze Wochenende, ewig lange arbeiten, langweilige Dinge tun“, zählt Batura auf. In dieser so genannten „Honeymoon-Phase“ machen auch stupide Tätigkeiten wie Staubsaugen oder die Wohnung aufräumen plötzlich Spaß, das eigene Selbstwertgefühl erreicht ungeahnte Ausmaße. Die Konsumenten können scheinbar alles schaffen.

Vor allem unsichere Menschen greifen zu Crystal, um angstfrei und selbstbewusst aufzutreten. Wer high ist, denkt, er kann Konflikte mit dem Arbeitgeber, der Schule, den Eltern, dem Partner leichter lösen. Viele nehmen Crystal erst ab und an am Wochenende, dann immer regelmäßiger.

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Phase 2: Im Zweifel

Wer zu Peter Batura in die Beratungsstelle kommt, bemerkt in der Regel die ersten Nachteile der Droge. Wann sich diese zeigen, sei sehr unterschiedlich und abhängig von Dosis und Dauer des Konsums. „Der Verlauf kann sehr schnell sein, wir haben aber auch Klienten, die erst nach zehn Jahren bei uns aufschlagen.“ Der Psychologe vergleicht diese Zeitspanne mit einer Wippe, die hin und her wackelt. „In dieser Phase haben Sie mit der Droge noch tolle Erlebnisse, aber auch schon Ärger – mit der Polizei, auf Arbeit, mit dem Partner.“

Viele Konsumenten versuchen, die Menge zu drosseln, das gelinge aber meistens nicht. Wer bei Batura Hilfe sucht, muss anfangs noch nicht clean sein. Im Gespräch stellen die meisten fest, dass die Nachteile des Konsums bereits überwiegen. „Das ist ein wichtiger Punkt zur Veränderung“, sagt der Therapeut.

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Wie kommt man raus aus der Sucht?

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Phase 3: Die Entgiftung

„Wenn die Nachteile immer massiver werden, kippt die Waage irgendwann um“, erklärt Peter Batura. Crystal schädigt das Nervensystem, kann Depressionen hervorrufen, durch Schlafmangel kann es zu Psychosen kommen. Die meisten Konsumenten wollen nun von der Droge loskommen. Einige müssen dafür erst einmal eine 21-tägige Entgiftung im Krankenhaus durchlaufen. Danach sei das Problem aber nicht gelöst, sagt Peter Batura. Crystal mache weniger körperlich abhängig, als auf der seelischen Ebene. „Man muss sich von der Droge vom Kopf her lossagen.“

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Phase 4: Die Therapie

Wer clean ist, kann eine Therapie beginnen, entweder mehrere Monate in einer Suchtklinik oder ambulant, dann dauert das Ganze ein Jahr. In Einzel- und Gruppengesprächen reflektieren die Ex-Konsumenten ihr Suchtverhalten, lernen, ihren Alltag drogenfrei auf die Reihe zu bekommen. Leicht ist diese Umstellung nicht. „Wenn sie auf die Droge verzichten, kommen Sie schnell in Situationen, in denen sie früher eine Nase gezogen hätten“, sagt Batura. „Ein alternatives Verhalten müssen sie sich hart erarbeiten.“ Oft geht es auch darum, das eigene Leben wieder in den Griff zu bekommen: Schulden abbauen, Sport treiben, neue Freunde und einen Job finden, eine Wohnung suchen.

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Phase 5: Clean bleiben

Gruppengespräche sollen den Übergang in den Alltag erleichtern. Peter Batura weiß, dass viele Menschen nach der Behandlung nochmal rückfällig werden. Solange es ein Ausrutscher bleibt und sie die Droge nicht wieder regelmäßig konsumieren, sei das kein Drama. Das Ziel der ehemaligen Crystal-Abhängigen sei dadurch nicht sofort gefährdet: dauerhaft clean zu bleiben.

„Die gefährlichste Droge“

Leipziger Suchtberater warnen vor Crystal

„Früher waren wir spezialisiert auf die Betreuung heroinabhängiger Menschen“, sagt Gabriele Wagner, Leiterin der Leipziger Suchtberatungsstelle „Alternative 2“. „Inzwischen hat sich der Schwerpunkt verschoben – auf Crystal.“ Die Psychologin lehnt sich in einem roten Sessel zurück, nippt an einer Tasse Kaffee, ihre Stimme ist leise. Neben ihr sitzt Alexander Kaiser, ein Sozialpädagoge, der ebenfalls täglich mit Drogenabhängigen arbeitet, ihre Probleme anhört, Ratschläge gibt. Beide sprechen von „Substitution“, „Entwöhnung“, und „Klienten“, wenn sie von ihrer Arbeit reden, der Jargon ihres Berufs.

Ein Teil der ehemaligen Heroinkonsumenten sei inzwischen auf
die weißen Kristalle umgestiegen, erklärt Wagner. Andere greifen von vornherein zu Crystal. Im besten Fall suchen sie sich irgendwann Hilfe  – und landen dann in einer von 45 Suchtberatungsstellen in Sachsen. Manchmal nicht ganz freiwillig. Einige Menschen kommen, weil sie geschickt werden – vom
Bewährungshelfer, vom Jugendamt, ihrem Anwalt oder dem Ausbildungsbetrieb. Doch der größte Teil – etwa 80 Prozent – sucht sich aus eigener Motivation Unterstützung.

Crystal nehmen Menschen jeden Alters. Einen typischen Konsumenten gebe es nicht, sagt Alexander Kaiser. Wagner und Kaiser treffen oft auf Menschen, die sehr früh eingestiegen sind, die schon mit 14 erst Alkohol und Cannabis, später Crystal nahmen. Oft vermischen sie die Drogen bis heute. Zum Aufputschen Crystal, zum Runterkommen Cannabis oder Heroin.

Viele testen die Kristalle erst aus Neugier zwei, drei Mal. Unter Jugendlichen sei es noch immer cool, Drogen zu nehmen, sagt Kaiser. „Sie können mit Crystal unangenehme Gefühle dämpfen, fühlen sich leistungsfähig und fit“, ergänzt Gabriele Wagner.
Manchen Menschen fehlen adäquate Strategien, mit ihrem Leben klarzukommen. Manchmal sei die Droge eine Selbstmedikation bei psychischen Problemen. Das Gefährliche bei Crystal: Anders als viele andere Drogen wirkt der Stoff stark euphorisierend und steigert die eigene Leistungsfähigkeit. Sportler, Studenten, berufstätige Mütter – viele von ihnen greifen zu der illegalen Substanz und meistern nur damit über Jahre ihren Alltag. „Wir haben hier einige, die beruftätig sind und seit zehn, 15 Jahren konsumieren“, sagt Alexander Kaiser. „Andere suchen den Ausstieg aus dem Alltagstrott übers Partymachen, wollen Freitag, Sonnabend, Sonntag durchhalten.“

Crystal sei billiger als Kokain, dafür halte die Wirkung lange an, selbst wenn es gestreckt ist –„mit Salz, Amphetaminen, Glutamat oder vereinzelt mit Mauerputz“, sagt Alexander Kaiser. „Es gibt Klienten, die nach dem intravenösen Konsum bis zu fünf Tage wach sind.“ In der Regel sei man etwa zwei bis drei Tage schlaflos. Das Tückische: Die Leistungsfähigkeit wird dem Körper nur vorgegaukelt. Auf das Hochgefühl folgt der Zusammenbruch. Um wieder gut drauf zu sein, braucht das Gehirn neuen Stoff – und schnell mehr davon. Auch deshalb sagt der Sozialpädagoge: „Ich halte Crystal für die gefährlichste Droge.“

Gabriele Wagner spricht im Video über Folgen des Crystal-Konsums.

Die Alternative 2

Die Suchtberatungsstelle gehört zum Zentrum für Drogenhilfe des städtischen Klinikums Sankt Georg in Leipzig. Die „Alternative 2“ ist eine von insgesamt sechs Beratungsstellen in der Stadt. Während in der „Alternative 1“ suchtkranke Menschen notübernachten können, ihre Spritzen tauschen und etwas zu Essen bekommen, geht es in der Alternative 2 vor allem um die Beratung von Drogenabhängigen und ihren Angehörigen.

Die negativen Folgen, die die Substanz mit sich bringt,
werden von den Betroffenen oft nicht so schnell wahrgenommen, sagt der Experte. „Das liege an der verzerrten Wahrnehmung, die die Droge hervorrufe. „Wir erleben hier oft Leute, die für uns schon einen dramatischen Gesundheitszustand aufweisen, das selbst aber nicht so empfinden.“ Im Vergleich zu Heroin sei „der gesundheitliche Verfall rasant“, sagt Kaiser. Hinzu komme der geistige Verfall, oft werden durch den Konsum Psychosen ausgelöst. Die Süchtigen halluzinieren, hören Stimmen, die nicht da sind.

Wer von Crystal weg will, hat in der Regel einen langen Weg vor sich. „Man kommt schwer davon los“, gibt Alexander Kaiser die Erfahrung seiner Klienten wider. Das Wichtigste: die eigene Motivation. „Es muss erstmal Ziele geben, für die es sich lohnt, aufzuhören“, sagt Gabriele Wagner. In Gesprächen versuchen die Mitarbeiter mit dem Konsumenten andere positive Erfahrungen zu suchen, etwas, was das Leben lebenswert macht. „Es gibt kein vergleichbares Gefühl, das sagen alle Betroffenen“, so Wagner. Dennoch könne man andere drogenfreie Kicks haben – beim Sport oder beim Theaterspielen etwa. „Das sind lohnende Alternativen, die erarbeitet werden müssen.“

Wichtig sei es, für sich Strategien zu finden, mit dem Verlangen nach der Droge umzugehen. Wer den Drang hat, eine Line Crystal zu ziehen, sollte versuchen, seine Gedanken auf andere Themen zu lenken, eine Alternativhandlung zu finden oder mit jemand Vertrautem darüber zu reden. Während einer Reha in einer Klinik oder
ambulanten Praxis werden die Menschen auf ein drogenfreies Leben vorbereitet. Das Problem: Was unter der Aufsicht der Ärzte funktioniert, klappt meistens im echten Leben nicht mehr. „Die harte Arbeit geht erst nach der Reha los, denn dann müssen sie das Erlernte in den Alltag transferieren. Das ist eine ganz schöne Feuertaufe“, weiß Gabriele Wagner.

Die Alternative 2 hilft ehemaligen Abhängigen dabei, sich für das Leben draußen fit zu machen. Oft heißt das auch, eine Wohnung und einen Job zu finden, ein neues soziales Umfeld aufzubauen. Um das zu schaffen, arbeiten viele zunächst einige Stunden am Tag in dem Beratungszentrum – werkeln im Garten, in der Küche, in Fahrrad- und Siebdruckwerkstatt, oder in der Nähstube, unter der Anleitung ehemaliger Abhängiger.

Die Arbeitsangebote und sportliche Aktivitäten wie Klettern, Tischtennis oder Volleyball sollen eine feste Tagesstruktur bieten und Teamfähigkeit, das Selbstwertgefühl und soziale Kompetenzen stärken, erklärt Wagner. „Viele wissen gar nicht mehr, worüber man mit Menschen redet, die keine Drogen nehmen.“ Die Chance, dem Stoff wieder zu verfallen, sei dennoch hoch, sagen die Suchtberater. „Viele werden nach der Therapie nochmal rückfällig“, so Alexander Kaiser. „Die Leute lernen aber damit umzugehen.“

„Die Droge gelangt natürlich in die Muttermilch“

Professor Ulrich Thome ist Kinderarzt und Spezialist für Neugeborene. Am Universitätsklinikum in Leipzig leitet er die Neonatologie, eine Station, in der kranke Neugeborene versorgt werden. Der 52-Jährige behandelt Frühgeburten, Infektionen und Fehlbildungen bis hin zu Drogenentzugsleiden. Immer wieder begegnen Thome Kinder, die unter dem Crystal-Konsum ihrer Mütter leiden.

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Wie oft erleben Sie werdende Mütter, die während ihrer Schwangerschaft Crystal konsumieren?

Es begegnet uns regelmäßig, dass Frauen vor der Geburt von ihrem Crystal-Konsum berichten. Unter Umständen nehmen wir auch Urintests vor, um herauszufinden, welche weiteren Substanzen eine Rolle spielen. Das ist für die Weiterbehandlung des Kindes wichtig. Bei bestimmten Drogen müssen wir in den ersten Lebenstagen nach der Geburt in die Substitution [Anm. d. Red.: Einsatz eines Ersatzstoffes für die Droge] gehen, damit das Kind diese Phase unbeschadet übersteht.

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Ist das Problem in den letzten Jahren schlimmer geworden?

Es hat in den letzten Jahren sicherlich zugenommen. Als ich 2008 an die Uniklinik kam, war das Hauptproblem immer noch die Opiatabhängigkeit – Stichwort Heroin. Das ist inzwischen seltener geworden, aber Crystal hat zugenommen. Und ich weiß nicht, ob das ein guter Tausch war.

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Kommen Crystal-Babys bereits abhängig auf die Welt?

Heroin kann bei Müttern und den Kindern schwere körperliche Symptome und auch Komplikationen bis hin zu epileptischen Anfällen hervorrufen. Das ist eine echte körperliche Abhängigkeit, die es bei Crystal in dieser Form nicht gibt. Crystal macht extrem stark psychisch abhängig. Der Körper leidet im Entzug jedoch nicht in diesem Maße darunter, sodass ich nur schwer beurteilen kann, inwieweit die Kinder einen Entzug durchmachen. Psychisch sind sie sicherlich stark verändert – das sieht man an ihrem Verhalten.

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Welches Verhalten zeigen Crystal-Kinder?

Wenn die Mutter nach der Geburt weiter Crystal nimmt – kann das Stillen zum Problem werden?

Der Körper geht bei jeder Crystal-Dosis in den Stressmodus und regelt alles, was sonst normal funktionieren würde, herunter. Wenn ich den Körper ständig mit der Droge in diese Stressreaktion hineinpushe, geht die Milchbildung zurück. Dann kann es sein, dass das Kind nicht adäquat ernährt werden kann. Zum Vergleich: In der Steinzeit waren wir in der Lage, notfalls vor einem Bären davonlaufen zu können. In dem Moment würde wahrscheinlich auch die Milchbildung heruntergefahren, damit alle Energien in die Flucht gesteckt werden können.

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Vergiftet die Droge die Muttermilch?

Die Droge gelangt in die Muttermilch und wird so vom Kind aufgenommen. Trinkt das Kind die Milch, wird die Droge weiter verdünnt. Damit ist die Dosis in der Regel nicht wirksam. Bei den meisten potenziell schädlichen Medikamenten erlauben wir den Müttern deshalb trotzdem das Stillen. Ich würde auch nicht sagen, dass Mütter, die Crystal konsumiert haben, auf keinen Fall stillen dürfen, sondern abwägen. Ein anderes Problem sehe ich darin, dass eine Mutter im Rausch möglicherweise auf ein Problem ihres Kindes nicht adäquat reagiert. Etwa, wenn das Kind Erbrochenes im Mund hat, sodass es auf den Bauch gelegt werden muss, um wieder Luft zu bekommen. Ist die Mutter high, reagiert sie vielleicht gar nicht und das Kind stirbt.

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Welche Spätfolgen drohen Crystal-Kindern?

Ist die Medizin auf das wachsende Problem Crystal vorbereitet?

Die Medizin kann nicht gut vorbereitet sein. Bevor ein neues Medikament eingeführt wird, wird es zuerst in Studien getestet. Damit wissen wir genau, was auf uns zukommt. Bei Crystal ist es genau umgekehrt. Das wird in großen Mengen konsumiert, Studien gibt es aber eigentlich keine. Dadurch haben wir natürlich ein Forschungsdefizit, von dem ich befürchte, dass es langfristig bestehen wird. Deshalb tauschen wir uns auch unter Kollegen aus, etwa mit der Dresdner Uniklinik, die schon etwas länger Erfahrung mit dem Problem hat. Als hier in Leipzig noch Opiate in Mode waren, war dort Crystal schon auf dem Vormarsch.

Interview: André Pitz

 

„Mit einem Crashkurs von einer halben Stunde ist man in der Lage Crystal zu kochen.“

Der Toxikologe Heiner Trauer und seine Kollegen wissen, wie leicht die Droge
herzustellen ist.

Wenige Stufen führen herab in das Reich von Heiner Trauer. Der Toxikologe sitzt im Keller eines Backsteinbaus in der Leipziger Johannisallee. Um ihn herum stehen im grellen Neonlicht diverse technische Geräte, die schnattern und schnorren, eine beachtliche Geräuschkulisse. Heiner Trauer – Schnurrbart, leicht zersauste Haare – ist Fachmann für illegale Substanzen. Der 60-Jährige arbeitet als Chemiker in der Gerichtsmedizin der Uni Leipzig. Im Labor untersuchen er und seine Mitarbeiter Stoffe, die die Polizei auf ihren Einsätzen entdeckt. Außerdem durchforsten sie im Jahr etwa 3000 Blutproben, die die Beamten auffälligen Autofahrern bei Verkehrskontrollen abnehmen.

Heiner Trauer spricht im Video über die Bluttests im Labor.

Worauf Trauer bei den Tests immer wieder stößt: Crystal, das er chemisch korrekt Methamphetamin nennt. Statistische Daten erheben die Wissenschaftler nicht. Trauer schätzt aber, dass der Anteil an Frauen und Männern in etwa gleich verteilt ist. Besonders häufig finden sie die Droge bei Autofahrern Mitte oder Ende 20. Sein Chemikerkollege Andreas Güntzel sagt: „In Sachsen haben wir deutlich mehr Fälle von Crystal als etwa Cannabis.“ Wie lange sich die Substanz im Blut nachweisen lässt, sei abhängig von der Menge, so der 59-Jährige. Zwei bis fünf Milligramm könne man bis zu 24 Stunden nach der Einnahme feststellen, höhere Mengen auch nach fünf oder sechs Tagen noch.

Was zur Verbreitung der Droge beitragen dürfte: Crystal herzustellen sei relativ einfach, betonen beide Experten. „Wir haben schon Anleitungen gesehen von drei oder vier Zeilen“, sagt Trauer. „Mit einem Crashkurs von einer halben Stunde ist man im Prinzip in der Lage Crystal zu kochen.“ Eine gewisse Gefahr bestehe allerdings, gibt Andreas Güntzel zu Bedenken. „Man arbeitet mit ätzenden Substanzen wie Säuren, außerdem mit Lösungsmitteln.“ Generell aber gelinge selbst schlechten Köchen oft eine hochdosierte Substanz.

Aus Chemikersicht hält Heiner Trauer die farblosen Kristalle
deshalb für gefährlicher als Heroin, weil man es so hochdosiertzu sich nimmt. Wer stark gestreckte Substanzen konsumiere, was bei Heroi eher der Fall sei, sei weniger schnell abhängig und erleide nicht so schnell eine Überdosis. „Crystal ist das fieseste, was hier im Umlauf ist“, sagt auch Güntzel. „Bei anderen Betäubungsmitteln – Cannabis, Heroin – weiß ich, dass ich mich bedüdele.“ Methamphetamin aber wirke anders. „Unter Crystal erkenne ich erst, wozu ich in der Lage bin.“ Allerdings betont Güntzel: „Das ist ein chemisch induzierter Zustand, der mit der
Wirklichkeit nichts zu tun hat.“

Herstellen lässt sich Crystal aus  Ephedrin, „einem Stoff, der in einer Pflanze vorkommt, die im Mittelmeerraum wächst“, erklärt Güntzel. Ephedrin und das artverwandte Pseudo-Ephedrin stecken aber auch in Erkältungsmitteln. „Da lassen sie die Schleimhäute abschwellen, regen den Stoffwechsel an“, so der Chemiker. Aus zehn Gramm Pseudo-Ephedrin stellen Köche etwa sechs bis acht Gramm Crystal her, schätzt der Experte.

Heiner Trauer spricht im Video über den Crystal-Grundstoff Ephedrin und aufgedeckte Crystal-Labore.

Am Ende des Prozesses wird es in eine kristalline Form
gebracht, „denn reines Methamphetamin ist eine übelriechende, ölige Flüssigkeit, die sich keiner einverleiben würde“, sagt Andreas Güntzel. In der Regel sind die Kristalle weiß mit einem gelblichen oder rötlichen Schimmer. Das Salz besteht etwa zu 70 bis 80 Prozent aus reinem Methamphetamin, erklärt Güntzel. Das blaue Crystal, das aus der US-Serie „Breaking Bad” bekannt ist, gebe es in der Realität dagegen nicht. Heiner Trauer sagt: „Reines
Crystal sind farblose Kristalle, wenn die blau sind, ist irgendwas dran, was nicht dazugehört.“ Andreas Güntzel sagt: „Mehr als ein blauer Schimmer ist nicht drin.“ Viele Dealer strecken die Droge nochmals, mit Bittersalzen etwa. „Ein geübter Crystal-Konsument erkennt aber, dass etwas beigemischt ist“, sagt Güntzel.

Während Ephedrin und Pseudo-Ephedrin mittlerweile unter das Grundstoffüberwachungsgesetz fallen, also nicht frei verfügbar sind, wird ein dritter Stoff, aus dem die Droge gewonnen werden kann: Clorephedrin ist ebenfalls Bestandteil von Schnupfenmitteln und Antiallergika.  Vor einiger Zeit fand die sächsische Polizei mehrere Tonnen einer unbekannten Substanz und bat die Chemiker der Leipziger Gerichtsmedizin um Hilfe. „Wir hatten natürlich den Ehrgeiz, herauszukriegen, was es war“, erinnert sich Trauer. „Wir haben es mit unseren Mitteln kaum hingekriegt“, sagt Andreas Güntzel. „Das ist schon sehr ungewöhnlich.“ Sie zogen weitere Chemiker-Kollegen zurate. „Selbst die haben sich daran die Zähne ausgebissen“, sagt der Toxikologe.

Tonnenweise Chlorephedrin

Spektakuläre 4,1 Tonnen des Crystal-Grundstoffes Chlorephedrin soll der Leipziger Pharmahändler Peter F. importiert und anschließend nach Tschechien durchgereicht haben – mit dem Wissen, dass die Substanz zur Weiterverarbeitung in Drogenküchen gelandet sein soll. Davon ging die Leipziger Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung im März 2015 aus. Der Vorwurf: Beihilfe zum unerlaubten bandenmäßigen Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in 13 Fällen. Das Gericht nahm der Staatsanwaltschaft jedoch schnell den Wind aus den Segeln und ließ lediglich einen Bruchteil der Anklage zu. Laut der 8. Strafkammer bestand kein hinreichender Tatverdacht, was in Tschechien mit dem Chlorephedrien gemacht wurde. Zumal der Handel mit dem Stoff an sich zum damaligen Zeitpunkt völlig legal war. Im Juni vergangenen Jahres Platzte der Prozess schließlich. Die Kammer kritisierte, dass zahlreiche Akten erst nach der Anklageerhebung auftauchten und die Staatsanwaltschaft erst mehrere Monate nach Anregen durch das Bundeskriminalamt Rechtshilfe bei den tschechischen Kollegen ersuchte. Offen ist nun, wann die Verhandlung von vorn starten soll.

Irgendwann fanden die Fachleute heraus, dass es sich um
Chlorephedrin handelte. Und sie entdeckten noch etwas: „Man kann es noch einfacher zu Methamphetamin umsetzen, als die anderen beiden Ausgangsstoffe. “ Das Problem der Polizei: Der neue Rohstoff war zu diesem Zeitpunkt völlig legal. „Jeder hätte sich das Pulver in jeder beliebigen Menge bestellen können, aus China zum Beispiel“, sagt Güntzel. Das war auch der Grund, warum die Crystal-Produzenten auf den Ausgangsstoff ausgewichen waren.

„Man kann mit Chlorephedrin nicht mehr unbemerkt größer Handel treiben.

Inzwischen hat die EU reagiert und den Zugang zu Chlorephedrin seit September verschärft. Wer die Chemikalie herstellt, besitzt
oder mit ihr handelt, muss künftig eine Erlaubnis vorweisen können. Unternehmen oder Geschäftsleute sind verpflichtet, den Behörden verdächtige Transaktionen zu melden. „Man kann damit nicht mehr unbemerkt größer Handel treiben“, sagt Heiner Trauer.

Aus Pervitin wird Crystal – die Geschichte der Droge

Der Crystal-Erfinder

Crystal ist keine neue Droge, sondern seit über 100 Jahren bekannt. Forscher untersuchten die Substanz schon Ende des 19. Jahrhunderts. 1893 stellt sie der japanische Chemiker Nagayoshi Nagai in flüssiger Form erstmals im Labor her. Bald darauf wird Crystal unter dem Namen „Pervitin“ in Pillenform gehandelt und vor allem von den deutschen Temmlerwerken, einem Pharmakonzern, auf den Markt gebracht.

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Panzerschokolade

Im Zweiten Weltkrieg wurden deutsche Soldaten mit Pervitin aufgeputscht. Die „Wunderpille“, die man ihnen verabreichte, war auch als „Panzerschokolade“ oder „Hermann-Göring-Pille“ bekannt. Ihre Wirkung hielt zehn Stunden lang an und half gegen Müdigkeit, Kälte und Angst.

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Die Problem-Pille

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Pervitin für Heinrich Böll

Prominentester Konsument des Muntermachers Pervitin: der Schriftsteller Heinrich Böll. Er bat per Feldpost mehrfach um das Präparat, das ihn für ein paar Stunden glücklich machte.

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Das Opiumgesetz

Die leistungssteigernde Wirkung war allerdings nicht von Dauer. Schweißausbrüche, Schwindelanfälle, Depressionen und Wahnvorstellungen plagten die Soldaten, sobald sie keinen Nachschub an Pervitin bekamen. 1941 stellte der NS-Reichsgesundheitsführer Leonard Conti das Mittel unter das Opiumgesetz. Seitdem war es für die normalen Bürger schwerer zu beschaffen, an der Front wurde es aber weiter verteilt.

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Crystal als Doping

Die Bundeswehr gab das Mittel noch in den 1970er Jahre an Soldaten aus, NVA-Grenzsoldaten hatten es bis 1988 in ihrer Ausrüstung. Später waren Amphetamine als Dopingmittel im Sport beliebt. Der frühere US-Tennisstar Andre Agassi gestand, lange Crystal genommen zu haben.
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In der Apotheke zu haben

Bis 1988 gab es Pervitin sogar in der Apotheke zu kaufen. Als Arzneimittel sollte es gegen Konzentrationsschwächen und chronische Müdigkeit helfen.

„Man sieht es den Leuten oft nicht an.“

Beamte vom sächsischen Landeskriminalamt und Zoll beschreiben die Suche nach Crystal-Schmugglern als Kampf gegen Windmühlen

Jugendliche Kuriere, Drogen hinterm Nummernschild und eine Rentnerin, die Drogen im Wert von 80.000 Euro im Handschuhfach transportiert – der Job von Zollamtsrat Toralf L. ist wahrlich nicht arm an Überraschungen. „Es gibt kein gängiges Raster, nach dem wir fahnden könnten, man sieht es den Leuten oft schlicht nicht an“, sagt der 48-Jährige, der seinen Namen nicht verraten will und auch kein Foto von sich machen lässt. Der Grund: Die Dealer, die er jagt, dürfen nicht wissen, wie er aussieht. Denn L. ist in der Gemeinsamen Ermittlungsgruppe Rauschgift (GER) tätig. Gemeinsam mit 25 Kollegen von Zoll und Landeskriminalamt bekämpft er die Drogenkriminalität im sächsischen Grenzgebiet zu Tschechien.

Toralf L. erklärt im Video, welche Verstecke Crystal-Schmuggler nutzen

Welche Strafen drohen Dealern in Deutschland ?

Jeglicher Besitz als auch der Handel mit Crystal – selbst in der kleinsten Menge – ist strafbar. Die Höhe der Strafe bemisst sich am reinen Wirkstoffgehalt der sichergestellten Substanz, nicht an ihrer Menge. Als geringe Menge gilt ein Wirkstoffgehalt von fünf Gramm. In diesem Fall drohen eine Geld- oder Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren. Wird diese Zahl überschritten, können für Herstellung, Besitz oder Handel Freiheitsstrafen zwischen einem und 15 Jahren verhängt werden. Ähnlich ist das Strafmaß bei der unerlaubten Einfuhr der Droge nach Deutschland. Wird auch hier die nicht geringe Menge überschritten, sind Freiheitsstrafen von zwei bis 15 Jahren drin.

Seit 1993 ist die GER im Kampf gegen organisierte und schwere Rauschgiftkriminalität im Einsatz, seit 2010 unterteilt in die Bereiche West- und Ostsachsen. Insbesondere Crystal hat sich dabei in den vergangenen Jahren zum neuen Schwerpunkt der Ermittlungen entwickelt, wie auch ein Blick in die amtliche Kriminalitätsstatistik des Freistaates zeigt. Von den insgesamt 9800 für 2015 aufgeführten Rauschgiftdelikten haben mit 4200 fast die Hälfte mit den synthetischen Kristallen zu tun. Die Beamten ermitteln grenzübergreifend, sind allerdings nicht selbst auf Streife unterwegs. Stattdessen werden sie bei Zugriffen oder nach Hinweisen auf Drogenküchen oder Kurierfahrten aktiv.

Mit der Zeit habe sich der Schwerpunkt der Ermittlungen kontinuierlich weiter nach Osten verlagert, berichtet Kriminalhauptkommissar Harald S., der ebenfalls unerkannt bleiben möchte. Während von 2000 bis 2008 noch zahlreiche Labore zur Crystal-Herstellung in Sachsen betrieben wurden, seien spätestens mit dem Geschäftseinstieg vietnamesischer Banden im Nachbarland Tschechien die Karten neu gemischt worden, so der 59-Jährige. „Inzwischen liefern die dortigen Labore eine sehr gute Qualität zu vergleichsweise geringem Preis“, erklärt er. Und es wird immer mehr gekocht: „Inzwischen werden in Tschechien pro Jahr zwischen sechs und zehn Tonnen Crystal in Pulverform produziert – die Hälfte davon ist für den Export bestimmt.“

Toralf L. beschreibt im Video, wo Crystal produziert wird.

Deshalb sei die Zusammenarbeit mit den tschechischen Kollegen entscheidend für die Ermittlungen. Die Kooperation verläuft gut, berichtet Toralf L.. Allerdings sehen sich die Beamten im Nachbarland neben den heimischen Drogenküchen noch ganz anderen Herausforderungen gegenüber. „Die Beschaffungswege für die zur Produktion nötigen Grundstoffe sind oft unbekannt“, erklärt er. Gerade wenn Lieferungen über größere Distanzen erfolgen, sei es oft schwierig, einen Treffer zu landen – etwa, wenn Grundstoffe in Containern versteckt würden. Da viele Waren inzwischen ‚just in time‘, also genau dann geliefert werden, wenn sie gebraucht werden, stehen Container nur noch kurz am selben Ort – meist zu kurz, für eingängige Kontrollen. Der Zoll versucht deiser Entwikclung entgegenzuwirken, indem er bestimmte Container ganz gezielt kontrolliert. Auch seien viele Banden inzwischen auch auf lokaler Ebene gut vernetzt, das illegale Geschäft geschickt in die regionale und vor allem legale Infrastruktur integriert.

So beschäftigen sich die Beamten der GER auf deutscher Seite auch zu großen Teilen mit den Schmuggeltätigkeiten im Grenzgebiet – eine ebenfalls fordernde Aufgabe, denn die Kreativität der Kuriere scheint grenzenlos. „Die Verstecke sind extrem vielfältig, vom Handschuhfach über den Fahrradrahmen bis zum eigenen Körper ist alles dabei“, so L.. Auch über eine gute Menschenkenntnis müssen die Ermittler verfügen, denn viele Schmuggler sind selbst Abhängige. „Man muss wissen, wie die Verdächtigen ticken“, beschreibt Toralf L., „manche werden aggressiv, andere halluzinieren, einige wenige schlafen hingegen einfach ein – je nachdem wie viel und in welcher Stimmung konsumiert wurde.“

Von der Polizei sichergestellte Mengen Crystal in Kilo

2012

2014

2013

2015

Ein Mangel an Kurieren herrsche nicht, immerhin verspreche die Tätigkeit einen vergleichsweise leicht erzielten Verdienst. Qualitativ hochwertiges Crystal kostet in Tschechien auf der Straße knapp 20 Euro pro Gramm. In Deutschland verkaufen die Dealer die Droge für 60 bis 100 Euro weiter und erzielen damit ordentliche Gewinne. Es sei keine Seltenheit, dass bei Zugriffen nur Drogen im Grammbereich gefunden werden, erklärt Toralf L.. „Aber es sind auch schon mal Treffer mit bis zu 500 Gramm oder einem Kilo vorgekommen.“ Dennoch kommt die Polizei mit ihren Kontrollen kaum hinterher. Bei den 4200 Fällen, die die Beamten vergangenes Jahr aufdeckten, stellten sie gerade Mal 15 Kilo Crystal sicher. Ein Witz im Vergleich zu den Tonnen, die jährlich über die Landesgrenze geschmuggelt werden.

Die Droge werde die Behörden auch in Zukunft weiter beschäftigen, sind sich Toralf L. und Harald S. Sicher. „Crystal ist inzwischen leider zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem geworden, die Konsumenten finden sich in allen Schichten, passen nicht mehr in gängige Raster“, bilanziert S.. Crystal werde sich weiter ausbreiten, auch über die Grenzen von Sachsen hinaus, so L.  Aufgeben werden die Beamten der GER deswegen aber deshalb nicht. Da überwiegt dann doch der Idealismus.  Toralf L.: „Jeder hier macht seinen Job letztlich gerne – und mit Leidenschaft.“

Toralf L. spricht im Video über die Probleme der Ermittler.

Dealen im Krankenhaus und in der Apotheke –

besondere Crystal-Fälle in Sachsen

Mutter im Crystal-Rausch

Wie im Märchen kam sich die 61-jährige Dresdnerin Rosemarie S. vor, als ihre Tochter endlich einen Prinzen fürs Leben fand. Der entpuppte sich jedoch schnell als Wolf im majestätischen Nerzmantel, verdiente er doch sein Geld mit wenig königlichem Drogenhandel. „Ich habe immer gedacht, hoffentlich bleibt der bei unserer Tochter, der darf sie nicht verlassen und dann habe ich gemacht, was er wollte“, gab Rosemarie S. zu Protokoll. Und so begab es sich, dass die 61-Jährige nach Tschechien zum Friseur fuhr – „weil das billiger ist“ – und ihrem Schwiegersohn auf dem Rückweg eine Ladung Crystal mitbrachte.

Zwischen August 2012 und März 2013 sollen das vier Kilogramm gewesen sein, wie ihr die Staatsanwaltschaft später vorwarf. Ihre Kurierfahrten blieben nämlich nicht unentdeckt, die Ermittler schlugen zu. Sechs Monate verbrachte Rosemarie S. daraufhin in Untersuchungshaft, drei Jahre wartete sie auf ihre Verhandlung, an deren Ende sie im Juli schließlich zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde.

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Schmugglerbande mit Organisationstalent

Während Crystal-Konsumenten in der Regel mit chaotischen Lebensumständen in Verbindung gebracht werden, legen die Händler oftmals ein hohes Maß an Organisationstalent an den Tag. Als Strippenzieher im großen Stil flogen dabei unter anderem Daniel G. (42) und Ludwig J. (54) aus Dresden auf. Stolze 23 Kilogramm Crystal sollen die beiden zwischen Mai 2014 und November 2015 unter die Leute gebracht haben. Kuriere lieferten die Droge aus Tschechien nach Dresden. Von dort aus vertickte das Duo das kristalline Rauschmittel weiter – und landete so im Visier der Ermittler. Die ließen die Bande Ende letzten Jahres schließlich hochgehen. Jetzt stehen beide vor Gericht. Ludwig J. und Daniel G. erwarten beide eine Freiheitsstraße zwischen neun und elf Jahren – ein umfassendes Geständnis vorausgesetzt.

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Werdende Mutter mit ominösen Kontakten

Selbst die Geburt des eigenen Kindes gebietet dem organisierten Verbrechen offenbar keinen Einhalt. Sandy M. aus Aue lag schon in den Wehen in der Chemnitzer Frauenklinik, als sie noch einen ihrer zahlreichen Crystal-Deals in die Wege leitete. Die Droge hatte sie mit im Gepäck und übergab sie direkt im Krankenhaus einem ihrer als Besucher getarnten Hauptabnehmer.

Das Geschäft übernahm die Frau von ihrem Mann, der für seine Machenschaften bereits im Gefängnis landete. Aus dem Knast lieferte er seiner Angetrauten die entsprechenden Kontakte. Diese besorgte das Crystal aus Tschechien. Die ermittelnden Behörden schätzen, dass Sandy M. Stoff mit einem Marktwert von 100.000 Euro unter die Leute gebracht hat.

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Apotheker mit Geschäftssinn

Mindestens 11.000 Packungen des Schnupfenmittels Rhinopront hat ein Apotheker aus dem Erzgebirge bei Pharmakonzernen bestellt und an Abnehmer aus Tschechien weiterverkauft. Die waren jedoch nicht etwa aufgrund einer mörderischen Erkältung scharf auf das Medikament, sondern wegen seiner Ephedrinhaltigkeit – woraus sich wiederum Crystal herstellen lässt. Bei 11.000 Packungen springen dabei 5,5 Kilogramm heraus.

Schließlich gabelte der Zoll einen der Kunden auf, der im Verhör den Apotheker ans Messer der Ermittler lieferte. Der Apotheker schwieg vor dem Amtsgericht Aue, das ihn im Herbst vergangenen Jahres wegen unerlaubten Handeltreibens mit Grundstoffen zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren verurteilte.

Crystal auf der Bühne

Die Bühnen in Altenburg und Gera zeigen derzeit ein Stück von Dirk Laucke zum Thema Crystal. Es soll über die Droge, ihre Wirkung und die Folgen der Abhängigkeit aufklären, ohne dabei belehrend zu wirken.

Hier geht´s zum Theaterstück
Video-Interviews und Texte: Bastian Fischer, André Pitz, Gina Apitz
Fotos und Videodreh: Dirk Knofe, Regina Katzer, Sarah Englisch
Schnitt: Leipzig Fernsehen, Patrick Moye
Animation und Grafik: Patrick Moye 
Konzept, Produktion: Gina Apitz