Nobelapartments auf der einen Seite, Geldsorgen auf der anderen. Leipzig ist eine geteilte Stadt – eine, in der Arm und Reich aufeinandertreffen. Doch wie lebt es sich in der oberen, mittleren und untereren Etage dieser Gesellschaft? Ein Geschäftsführer, eine Handwerkerin und eine Hartz-IV-Empfängerin geben Einblicke in ihr Alltagsleben und sagen, welche Rolle Geld in ihrem Leben spielt.
Meinungen von Experten aus Wirtschaft, Recht und Wissenschaft ergänzen den Eindruck vom sozialen Gefälle der Stadt. Eine Reportage über Bessergestellte, Mittelschichtler und Menschen mit schmalem Budget.
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Wieviel verdienen die Leipziger im Durchschnitt? Welche Berufsgruppe hat am meisten auf dem Konto?
Wie entwickeln sich die Löhne in der Stadt? Die Animation gibt Antworten.
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„Ich weiß, dass wir
privilegiert sind“
Jens Katzek – der Rotarier aus der Führungsetage
„Es geht immer darum, mit Menschen Zukunft zu gestalten.“ Zwischendurch zitiert er Goethe. Sätze wie gedruckt. Katzek versteht sein Geschäft, er ist eloquent. Dass er als Beispiel für eine Leipziger Oberschicht herhalten soll, ist ihm gar nicht so angenehm. Er sei sich bewusst, dass er zu den Bessergestellten in der Stadt gehöre, sagt er. „Ich verdiene mehr als der Durchschnitt, aber nicht exorbitant“, betont er. „Ich könnte ihnen 250 Leute in der Stadt aufzählen, die besser verdienen.“ Zu seinen finanziellen Verhältnissen will er nichts sagen, wir lebten schließlich in einer sehr starken Neidgesellschaft. Nur soviel: „Wer 100.000 im Jahr verdient, zahlt 30.000 Euro in die Gesellschaft ein“, sagt Katzek. „Das sollten wir anerkennen.“
Den sozialen Aufstieg geschafft
Den elitären Charakter des Clubs will Katzek nicht verleugnen, aber es gehe ja auch darum, anderen zu helfen. Katzek ist keiner, der gern protzt. Und er will etwas zurückgeben an die, die weniger haben. Übers Ehrenamt. Er ist Vertrauensdozent bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und engagiert sich in einer Stiftung, die alten Menschen hilft.
Schließlich ist Katzek auch nicht mit dem sprichwörtlich goldenen Löffel im Mund geboren. Sein Lebenslauf liest sich wie die klassische Erfolgsgeschichte. Ja, er habe den sozialen Aufstieg geschafft, sagt er, „durch Glück und eigene Energie“. Aufgewachsen im Ruhrgebiet, Vater Maurer, Mutter Kellnerin. Mit zehn Jahren steht für ihn fest, dass er Chemiker werden will.
Als Schüler trägt er Zeitungen aus, um Geld zu verdienen, sein Studium finanziert er sich mit einem Stipendium. 1983 schreibt Katzek sich in West-Berlin für Biochemie ein, wird wissenschaftlicher Mitarbeiter der damaligen SPD-Bundestagsabgeordneten Edelgard Bulmahn. Er ist politisch interessiert, engagiert sich in der Friedensbewegung der 80er-Jahre und beim BUND.
Nach dem Mauerfall geht Katzek nach Brüssel, arbeitet für die EU-Kommission, „eine Riesenchance“. Dann stolpert man plötzlich über den Wendepunkt in seiner Biografie. Katzek entfernt sich von der Ökobewegung und wird zum Gentechnik-Lobbyisten.
Er sagt: „Ich habe gemerkt, dass das, was ich vertrete, nicht mehr einhergeht mit dem, was der BUND vertritt.“ Anfang der 2000er Jahre wird er in Magdeburg Geschäftsführer der BIO-Mitteldeutschland GmbH, die von Firmen wie Hexal, SunGene und Bayer finanziert wird – und sich für Gentechnik in der Landwirtschaft einsetzt.
Im Video spricht Jens Katzek über seine Rotary-Präsidentschaft
„Platz zu haben, ist das Schönste“
Vor drei Jahren trifft er gemeinsam mit seiner Frau die Entscheidung, nach Leipzig zu gehen. Den Osten kennt er ja schon. Und: „Die Stadt hat Ausstrahlung.“ Katzek findet einen Job in der Autolobby, seine Frau engagiert sich in einem Verein, der Kinder aus sozial prekären Familien unterstützt.
Ist Katzek ein Workaholic? „Ich glaube, dass ich schon ein bisschen ruhiger geworden bin“, sagt er. Die Arbeit spielt dennoch eine zentrale Rolle in seinem Leben. Als Geschäftsführer checkt er öfter Mails im Pyjama, der Arbeitstag hat kein klar definiertes Ende. Nicht selten kommt er erst 22 Uhr nach Hause.
Katzek spricht im Video über sein Verständnis von Arbeit
„Ich bin relativ stark verschmolzen mit dem, was ich tue.“ Auszeiten seien dennoch wichtig. „Wenn Sie immer nur in der Tretmühle sind, dann gebären Sie keine neuen Ideen.“
Und wie entspannt er sich? Frühstücken im Garten, den Vögeln zuhören, Kochen mit Freunden, Katzendame Minou streicheln, im Sommer mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren.
Und dann hat Katzek noch eine spezielle Leidenschaft: Er sammelt alte Bücher. Eine handsignierte Ausgabe der Buddenbrocks von 1929 steht in einem beachtlichen Bücherregal. Die alten Schinken sind seine Welt: „Wenn Sie so einen schöner Folianten aus dem 16. Jahrhundert in der Hand haben, das ist schon toll.“ Seine Frau findet, nur Briefmarken sammeln sei schlimmer.
Wofür sich beide begeistern: alte Möbel. Eine Holztruhe aus dem 17. Jahrhundert offenbart diverse Whiskeys, Brände und Liköre, ein kunstvoller Harzer Hochzeitsschrank schmückt den Flur. Über dem historischen Mobilar hängt zumeist moderne Kunst, Werke von Straßenkünstlern neben einigen aus der Leipziger Spinnerei.
Was treibt Katzek in seiner Freizeit? Das Video verrät es.
Kunst als Wertanlage? Nicht sein Ding. Da ist es wieder, das leidige Geld-Thema. „Ich weiß, dass wir privilegiert sind“, sagt Jens Katzek. „Wir haben viel gearbeitet, aber auch ein bisschen Glück gehabt.“
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Welche Rolle spielen
Luxusgüter in
Leipzig?
Gunter Engelmann-Merkel, Geschäftsführer des westsächsischen Handelsverbands, spricht im Video-Interview über die Bedeutung von Luxusartikeln in Leipzig.
Kaufkraft 2016 pro Einwohner in Sachsen
Kaufkraft 2016 pro Einwohner in Deutschland
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„Dass jede soziale Gruppe in Bestlage wohnt – das gibt es auf der ganzen Welt nicht.“
Steffen Göpel empfängt in einer pompösen Villa im Leipziger Musikviertel, moderne Kunst an den Wänden, der gläserne Kronleuchter in seinem Büro ist so groß, dass man Angst hat, er kracht jeden Moment auf den Fußboden. 750 Wohnungen hat der Leipziger „Immobilienkönig“, wie er häufig genannt wird, derzeit in der Mache – Sanierung und Neubau. Von der Arbeiterwohnung aus den 30er-Jahren bis zum Penthouse mit Blick über die Stadt.
Göpel betont: Nur zehn Prozent seiner Wohnungen fallen in den gehobenen Bereich. „Eine Dreizimmerwohnung mit 100 Quadratmetern – das ist für mich Luxus.“ Die Klassiker finden sich im Musik- und Waldstraßenviertel. „Dort ist die Stadtentwicklung eigentlich erledigt“, sagt Göpel. „Da passiert nicht mehr viel.“
Im Fokus hat der Immobilienunternehmer derzeit den Leipziger Osten und Südwesten, Plagwitz und Lindenau. „Da entstehen jetzt auch ein paar luxuriösere Wohnungen.“ Zum Beispiel das Veneziaquartier direkt an der Elster. Auf die ehemaligen Buntgarnwerke setzte Göpel schicke Penthäuser. Aus einer alten Papierfabrik in Eutritzsch machte seine Firma ein Industrieloft – mit vier Penthäusern auf dem Dach.
Doch was ist schon Luxus? „Die Sanierungsstandards, die wir in Leipzig haben, sind sicherlich deutschlandweit führend“, sagt Göpel. Fußbodenheizung zum Beispiel, das sei heute zeitgemäß und kein Luxus mehr.
Was versteht Steffen Göpel unter einer Luxuswohnung? Im Video verrät er es.
Es gebe im Grunde genommen nur ein paar wenige Stellschrauben, an denen sich drehen lasse: „Baddesign, Bodenbeläge, Qualität der Innentüren und Stuck“, zählt er auf.
Für so manchen ist Steffen Göpel die Gentrifizierung in Person, einer, der bezahlbaren Wohnraum in der Stadt verringert. Er selbst hält die Debatte dagegen für eine „verlogene Diskussion“ und spricht stattdessen von einer normalen Entwicklung einer wachsenden Stadt. „Dass jede soziale Gruppe den Anspruch hat in der Bestlage zu wohnen – das gibt es auf der ganzen Welt nicht“, sagt Göpel.
Die Galerie zeigt Penthäuser in Leipzig-Eutritzsch, die auf eine ehemalige Papierfabrik gesetzt wurden.
Wenn er die alten Häuser nicht saniere, was wäre die Alternative? „Die Wohnungen unsaniert verfallen lassen?“ Die hohen Anforderungen an die Bauqualität ließen sich mit Mieten von fünf Euro je Quadratmeter eben nicht vereinbaren.
Das Tilia-Carée in Eutritzsch hat die GRK auch kürzlich saniert. Die Galerie gibt Einblicke in das 30er-Jahre Ensemble.
Der Immobilienunternehmer plant geschickt, wo bald Bedarf sein wird. Vor sieben Jahren sanierte er den Rundling in Wahren. „Da haben alle gesagt, der Göpel, der spinnt doch.“ Inzwischen sind alle der 200 Wohnungen vermietet. Er hat weitere Häuser entlang der Georg-Schumann-Straße gekauft. „Die Straße ist im Kommen“, prognostiziert Göpel. „In drei bis vier Jahren wird sie komplett im Glanz erstrahlen.“ Seine Holding profitiert davon, dass die Stadt wächst. Genügend Sanierungsbedarf gebe es noch, sagt Göpel. „Leipzig hat noch soviel Potenzial an Flächen, ich sehe da nicht schwarz.“
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„Man kommt mit dem, was man verdient gut aus“
Annett Junghans – die Powerfrau aus der Mittelschicht
Annett Junghans steht in einer Wohnung in Markranstädt und begutachtet das Werk ihrer Mannschaft. Die pastellig bestrichenen Wände glänzen, der Laminatfußboden muss noch geputzt werden, die Fototapete mit türkisfarbenem Rosenmotiv im Schlafzimmer ist bereits fertig. Die Malermeisterin nickt zufrieden.
Dass die 44-Jährige ihre Truppe im Griff hat, spürt man. Powerfrauen werden weibliche Wesen ihres Schlags gemeinhin genannt. Die Stimme fest, das Auftreten selbstbewusst, der Blick geradeaus. Immerhin muss sich Junghans in einer Männerdomäne behaupten. Ein Problem hat sie damit nicht: „Ich bin die Chefin, klare Sache.“
Ihr Vorteil: Frauen vertrauen einer Frau eher als einem Malermeister, hat sie festgestellt. „Man traut einer Frau vom Geschmacklichen mehr Feingefühl zu“, glaubt Junghans. Skeptisch beäugen sie dagegen manche der männlichen Kollegen. „Sie meinen, sie müssten mich testen, ob ich wirklich etwas kann.“
Dabei wurde ihr der Beruf praktisch in die Wiege gelegt. Die Leipzigerin stammt aus einer Malerfamilie. Nach der Schule weigert sie sich zunächst in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. „Ich fand den Beruf ganz furchtbar.“ Junghans lässt sich zur Schneiderin ausbilden, nach der Wiedervereinigung sattelt sie um zur Außenhandelskauffrau, lebt fünf Jahre in Würzburg. Bis ihr Vater sie bittet, zurückzukommen. Da ist sie 28. Sie lässt sich überreden, die Familientradition weiterzuführen – und lernt an der Abendschule das Malerhandwerk.
Worauf kommt es Annett Junghans in ihrem Beruf an? Und wie findet es ihr Mitarbeiter, eine Frau als Chefin zu haben? Das Video gibt Antworten.
Heute hat Annett Junghans ihre eigene Firma, beschäftigt fünf Angestellte. Von ihren Einnahmen als Unternehmerin kann sie inzwischen gut leben. Ihren Jungs, wie sie sie nennt, zahlt sie einen Lohn über dem üblichen Ost-Tarif für Maler und Lackierer von 11,30 Euro pro Stunde.
„Mit einer Chefin ist es ein anderes Arbeiten.“
Die Mitarbeiter verlieren selbstverständlich kein schlechtes Wort über die Chefin. Sven Schüler arbeitet seit Anfang des Jahres bei der Malermeisterin. „Mit einer Chefin ist es ein anderes Arbeiten, detailverliebter“, sagt der 27-jährige Leipziger, während er die Rosentapete vorsichtig auf die Wand klebt. Einen weiteren Angestellten sucht Annett Junghans noch. Doch gute Leute, die ihren Anforderungen genügen, seien schwer zu finden.
Denn Junghans will sich abheben von ihrem Vater, der mit seinen Leuten auf Großbaustellen fuhr und Fassaden strich, klassische Malerarbeiten erledigte. „Bei mir kriegen Sie alles, aber keine Raufaser weiß“, betont die Malerin. „Ich mag schöne, verrückte, gute Sachen.“ Ausgefallen statt Althergebracht: Die Arbeitskleidung ihrer Truppe strahlt in navyblau, das Firmenlogo in knallbunt. Beratung ist für Annett Junghans wichtig: Bevor sie einen Auftrag annimmt, führt sie Gespräche, zeigt Kataloge, kauft mit den Kunden auch die passenden Möbel zur neuen Wandfarbe, wenn sie das wünschen. Was sie an ihrem Beruf liebt? „Am Schluss die strahlenden Augen zu sehen.“
Im Video erklärt die Malermeisterin, wie ein typischer Arbeitstag bei ihr aussieht.
Als gelernte Kauffrau kann sie gut mit Zahlen umgehen. Die Firma läuft. Als Handwerkerin gilt sie als klassisches Beispiel für den Mittelstand der Gesellschaft. Wie sie sich selbst sieht? Annett Junghans überlegt. „Man kommt mit dem, was man verdient gut aus“, sagt sie dann. „Das ist für mich Mittelstand.“ Teure Autos könne sie sich nicht leisten, dafür drei Kurzurlaube im Jahr, Ostsee oder Alpen, ein Trip an die Drehorte des Bergdoktors in Österreich zum Beispiel. Junghans liebt das Meer, ihr Partner das Gebirge.
Den 41-jährigen Hallenser lernte die Malermeisterin übers Internet kennen, seit vier Jahren sind die beiden ein Paar und bewohnen die ehemalige Malerwerkstatt von Annett Junghans Vater, die sich die Handwerkerin in ein schickes kleines Haus umgebaut hat. Ihr Freund arbeitet als Angestellter in Junghans Firma.
Die Freundin als Chefin – geht das gut? „Es ist teilweise schwer, aber es funktioniert“, sagt Junghans Partner. Kleinere Streits gebe es natürlich von Zeit zu Zeit, aber: „Privat herrscht Gleichstand.“
Privatleben – das ist bei der 44-Jährigen knapp bemessen. Angebote erstellen, Musterungen machen, auf Baustellen vorbeischauen, die Handwerkerin hat einen langen Tag. Aus der Familie kennt sie es nicht anders, alle haben immer viel gearbeitet. „Ist eben so“, quittiert Junghans die Plackerei lakonisch.
Zeit für Hobbys bleibt kaum: Abends im Garten die Blattläuse bekämpfen, das entspanne sie. Junghans sitzt jetzt am Rand eines ihrer Beete und deutet auf die Blumenpracht hinter sich: „Es blüht immer etwas“, sagt sie stolz.
Annett Junghans erklärt im Video, wie sie sich entspannt.
Ebenfalls Ausgleich zum Arbeitsstress: ein Bierchen in der Leipziger Innenstadt und Fußball. Junghans hat eine Dauerkarte für RB Leipzig. Im Winter steht Hochkultur auf dem Programm. Da lauscht das Paar gern Opern von Verdi und Puccini. Die meisten Abende aber verbringt die Handwerkerin auf ihrer Couch. Den Blick auf die etwa 300 Hühnergötter gerichtet, die an Ketten an der Wand baumeln. Den größten ihrer Sammlung, einen Sechs-Kilo-Koloss, entdeckte sie auf der Insel Fehmarn.
Ein Stückchen Meer hat sich Junghans vor Kurzem ins Wohnzimmer geholt: In der Ecke steht ein Meerwasseraquarium, drei Anemonenfische schwimmen darin herum – das Wasser schimmert in azurblau, ihrer Lieblingsfarbe.
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Was ist Armut?
Was gilt als Mittelschicht?
Wer gehört zur Oberschicht?
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„Über die Wohlhabenden in Leipzig wissen wir viel weniger als über die Armen.“
Ein Gespräch mit dem Soziologen Dieter Rink
Wer nach einem Experten sucht, der sich mit der Einkommensverteilung in Leipzig auskennt, kommt an Dieter Rink kaum vorbei. Der Soziologe arbeitet am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung zum Thema und sagt klipp und klar: „Leipzig ist die Armutshauptstadt in Deutschland.“ Seit Mitte der 2000er Jahre entstanden in Leipzig 50.000 neue Arbeitsplätze – viele davon schlecht bezahlt.
Warum die Menschen ausgerechnet in Leipzig so wenig verdienen, das liege an dem hohen Niedriglohnsektor, der sich über die Jahre entwickelt habe. Der Städtevergleich zeigt: In Dresden etwa gebe es 30.000 Jobs in der Landesregierung und den angeschlossenen Behörden, außerdem viele Arbeitsplätze im Bereich Hightech und Mikroelektronik.
Wie ist es um die Löhne in Leipzig bestellt? Dieter Rink analysiert im Video Einkommensunterschiede zwischen den sächsischen Städten.
„Dort gibt es eine ganz andere Struktur als das in Leipzig der Fall ist.“ Auch in Chemnitz sei mehr Industrie übrig geblieben. Die Folge: Die durchschnittlichen Einkommen sind höher als in der Messestadt. Aktuell steigen die Löhne in Leipzig, „allerdings nach einer langen Phase der Stagnation“, betont Rink.
Und die Reichen? Hier schweigt der Sozialforscher. „In der Forschung wird immer eher auf die armen Gruppen geguckt“, räumt Dieter Rink ein. „Über die Wohlhabenden in Leipzig wissen wir viel weniger als über sie.“
Welche Schicht lebt wo? Dieter Rink gibt einen Überblick für Leipzig. Klicken Sie auf die roten Markierungen.
Die Wolhabenden
Die Ärmeren
Mit wenig Geld
Schöne Altbauten
Kleinere Häuser
„Etwas anzusparen,
dazu komme ich nicht“
Annett Petrick, die elffache Mutter mit schmalem Budget
Annett Petrick blickt in einen riesigen Kochtopf, in dem noch ein Rest Kartoffelsuppe schwappt. Wenn die 46-Jährige am Herd steht, geht es zu wie in einer Großküche. Immerhin muss die lebenslustige Frau mit der lauten Stimme eine ganze Reihe von Mäulern stopfen. Annett Petrick hat elf Kinder, zwei erwachsene Sprösslinge sind bereits ausgezogen, ein Sohn lebt bei ihrem Ex-Mann, die anderen acht noch zu Hause.
Seit vier Jahren ist Petrick alleinerziehend. Das Geld ist knapp. Mit Kindergeld, Hartz IV und ihrem Nebenjob hat die Familie 1800 Euro im Monat zur freien Verfügung. Die zehn Familienmitglieder leben im Haus von Petricks Ex-Manns im Leipziger Westen: 230 Quadratmeter für moderate 825 Euro Miete plus Nebenkosten.
Wer mit Annett Petrick über ihre finanzielle Situation spricht, erlebt trotz allem eine Frau, die viel lacht und die gelernt hat, mit wenig Geld auszukommen. Warum sie sich eine Fußballmannschaft voller Kinder angeschafft hat, kann Petrick nicht so richtig erklären. Sie selbst war das einzige Kind ihrer Eltern. „Das war grauenvoll. Vielleicht habe ich deswegen so viele Kinder.“
Das erste bekam sie, „typisch DDR“, mit 19 Jahren, da war ihre erste Ehe schon zerrüttet, sagt sie. Petrick lernte jemand Neues kennen, es kam noch mehr Nachwuchs, darunter ein Zwillingspärchen. Ihr großer Sohn ist jetzt 27, der jüngste gerade mal fünf Jahre alt. Viel verraten über die Kinder will die Mutter nicht. Namen, Alter und Fotos der elf Sprösslinge – all das sei tabu. „Wir haben durch den Großfamilienstatus leider schon viele Nachteile gehabt“, erklärt Petrick. Ihre Kinder seien in der Schule gemobbt wurden, so mancher denke: „Die haben doch ne Macke.“
Wie sie den Alltag mit elf Kindern meistert, erklärt Annett Petrick im Video.
Klar bedeute eine Horde Kinder viel Arbeit, gibt Annett Petrick zu. Viele Eltern fühlten sich von ein oder zwei Sprösslingen bereits gestresst. Die elffache Mutter sagt dagegen: „Ich habe es nie als Belastung empfunden.“ Denn eine Kinderschar heißt auch: Spielkameraden sind jederzeit zugegen.
Sechs Uhr morgens klingelt der Wecker.
„Sie beschäftigen sich viel miteinander und werden schnell selbstständig.“ Ihr Fünfjähriger fuhr mit zwei Jahren schon Fahrrad, ihr achtjähriger Sohn geht allein in den Supermarkt einkaufen.
Mit anpacken muss jeder, damit der Großfamilienalltag funktioniert. Das meiste bleibt trotzdem an Annett Petrick hängen. Um sechs Uhr morgens klingelt ihr Wecker, dann heißt es Brote schmieren, die Kleinen bringt sie gegen acht Uhr in die Kita, die Älteren gehen allein zur Schule oder in den Ausbildungsbetrieb.
Petrick kocht abends für ihre Familie.
Den Vormittag nutzt Petrick für die Hausarbeit: aufräumen, wischen, die Wäsche machen. Oft landen hintereinander sechs oder sieben Ladungen in der Maschine. Gegen Mittag kommen die ersten zurück, am Abend ist meistens die ganze Familie versammelt. Dann kocht Petrick für ihre Truppe, immer frisch und mit viel Gemüse, betont sie.
Einmal pro Woche fährt die Mutter zum Großeinkauf mit einem 20 Jahre alten VW, den ihr eine Freundin für wenig Geld überließ. Zum Glück seien die Kinder nicht mäkelig. Schwierigkeiten bereitet ihr eine Tochter, die Vegetarierin ist. „Tofu und Soja, das kostet mehr“, sagt Petrick. Ein Problem für das knappe Budget der Familie.
Früher nutzte sie die Angebote der Leipziger Tafel. Dort bekam sie allerdings kleine Beutel mit ein paar Joghurts und ein bisschen Obst. Zu wenig für die Riesenfamilie. Mittlerweile spart sie anders: „Bei uns fliegt wenig weg.“ Ein Apfel mit weicher Stelle landet im Mixer, aus gesammeltem Obst kocht Petrick Marmelade, Gemüse zieht sie im Garten hinterm Haus heran.
Die grüne Oase ist der Ort, an dem sich Petrick vom Alltagsstress mit der Rasselbande erholt. Und er ist auch für die Kinder wichtig – sie können dort Fußball spielen oder im Sandkasten toben. „Die Kinder schauen wenig fern, sind viel draußen“, sagt die Mutter nicht ohne Stolz. Die Wahrheit ist allerdings auch: Viel Spielzeug gibt es nicht.
„Vollzeit arbeiten ging schon mit vier Kindern nicht.“
Die Kleinen sind es gewohnt, zu teilen. Von den Panini-Fußballsammelalben kaufte die Mutter eins, es gibt einen Computer im Haus, die Kleidung der Geschwister wird weitergegeben. Am Wochenende unternimmt die Familie oft Radtouren mit Picknick – das kostet nicht viel. Für die Kinder ist ab und an ein Kinobesuch drin, kürzlich sponserte die Großmutter für einen Teil der Familie einen Kurzurlaub auf Korfu.
Mit welchen Tricks spart Annett Petrick im Alltag? Die Antwort im Video.
Vielleicht kann sie einen Zuschuss beantragen beim Jobcenter. Mit der Behörde hat Petrick kein sonderlich gutes Verhältnis. Sie streitet sich immer wieder mit dem Amt – um die Zahlung von Nebenkosten. Oder um den Zuschuss zur Klassenfahrt, weil eine Lehrerin ein Dokument nicht abstempeln wollte.
Wer wenig verdient, kann den so genannten Leipzig-Pass beantragen – damit kostet der Eintritt in Zoo, Schwimmhalle oder Oper weniger. Als Einkommensgrenze gilt das 1,5-fache des aktuellen Hartz-IV-Regelsatzes, für eine Person derzeit 586 Euro. Mit dem Pass erhalten einkommensschwache Menschen seit 2009 ein vergünstigtes Ticket von den Leipziger Verkehrsbetrieben. Das kostet im Monat 32,50 Euro. Anfangs wurde das Ticket laut LVB von 13 000 Nutzern gekauft, heute von monatlich etwa 22 000 Leipzigern.
Manchmal, sagt Petrick, vermisse sie es, arbeiten zu gehen. Ihren gelernten Beruf Tierpflegerin übte sie drei Jahre lang aus. Da hatte sie schon zwei Kinder, bekam Unterstützung von ihrer Mutter. Ihr Mann arbeitete Vollzeit auf dem Bau „von früh um fünf bis abends um sechs. Trotzdem reichte das Geld nie aus“, erinnert sich Petrick. Die Familie war immer auf staatliche Unterstützung angewiesen, bekam mal 100, mal 400 Euro vom Arbeitsamt.
„Vollzeit arbeiten, das ging schon nicht mehr, als ich nur vier Kinder hatte“, sagt Petrick. Sie bewarb sich als Verkäuferin. Doch in Schichten arbeiten? Unmöglich mit soviel Nachwuchs. Bei Vorstellungsgesprächen bangt sie der Frage nach der Kinderzahl entgegen. Wenn Sie erzählt, dass sie welche habe, sei noch alles ok. Wenn der Arbeitsgeber wissen will, wie viele, werde das Gespräch schnell beendet.
Beim Arbeitsamt riet man ihr irgendwann, die Kinder ganz zu verschweigen. Petrick schüttelt den Kopf. „Das kann ich doch nicht machen“, sagt sie, lacht herzhaft und wirft dann einen nervösen Blick auf die Uhr. Gleich eins. Bald wird sich das Haus wieder füllen – Petrick muss noch das Essen vorbereiten.
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Diese Gruppen haben in Deutschland ein besonders hohes Armutsrisiko
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Alleinerziehende
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Familien mit drei oder mehr Kindern
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Erwerbslose
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Ausländer
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„Ein Umzug bedeutet den sozialen Abstieg“
Ein Interview mit der Leipziger Anwältin Kristina Sosa Noreña
Wer Ärger mit dem Leipziger Jobcenter hat, stolpert Kristina Sosa Noreña praktisch in die Arme. Die Leipziger Rechtsanwältin gründete vor fünf Jahren zusammen mit einem Kollegen die Kanzlei fsn-recht. Sie liegt direkt gegenüber des Leipziger Arbeitsamtes. Die drei Anwälte der Kanzlei kümmern sich fast ausschließlich um Streitigkeiten von Hartz-IV-Empfängern mit der Behörde. Für die entstehenden Anwaltskosten kommt in der Regel der Staat auf.
Was kann die Stadt für Hartz-IV-Empfänger in Leipzig tun? Kristina Sosa Noreña hat da ein paar Vorschläge.
„Gefühlt bedeutet ein Umzug den sozialen Abstieg“, sagt die Anwältin. „Genau davor haben viele Leute sehr große Angst.“ Denn Armut, betont Noreña, heiße nicht nur, wenig Geld zu haben, sondern auch, nicht mehr an gesellschaftlichen Aktivitäten teilnehmen zu können. „Dadurch gerät man schnell ins soziale Abseits.“
Häufig geht es um die Kommunikation mit dem Amt. „Viele Mandanten fühlen sich wie eine Nummer behandelt, nicht wie ein Mensch mit persönlichen Problemen“, schildert die 38-Jährige. Eine der Hauptängste der Hartz-IV-Bezieher: die eigene Wohnung zu verlieren. Das Amt übernimmt zwar die komplette Miete der Wohnung, solange diese 320 Euro warm für höchstens 45 Quadratmeter nicht übersteigt.
Man finde in der Stadt aber kaum noch Wohnungen für diesen Preis, kritisiert Noreña. Die Folge: „Mehrere tausend Hartz-IV-Empfänger müssen von ihrem Regelsatz zuzahlen.“ Viele geben von ihren 404 Euro staatlicher Unterstützung, die eigentlich zum Leben gedacht sind, 50 bis 100 Euro für die eigene Miete aus. Andernfalls müssten sie umziehen, mitunter in winzige Wohnungen, weit von der Innenstadt entfernt. 20 Quadratmeter für eine Person – das sei zumutbar.
„Die Menschen leben dann nur noch von Lebensmittelgutscheinen.“
Kristina Sosa NoreñaEs sind vor allem alleinerziehende Mütter, die in ihre Kanzlei kommen und oft schnelle Hilfe benötigen, zum Beispiel, weil das Jobcenter die Zahlung eingestellt hat. Wenn ein Termin verpasst wurde oder nicht ausreichend Bewerbungen geschrieben wurden, kann die Behörde zur Strafe weniger Geld ausgeben.
Sind die ALG-II-Empfänger jünger als 25, kann das Jobcenter ihnen die Unterstützung bei fehlender Kooperation sogar komplett streichen. „Die Menschen leben dann nur noch von Lebensmittelgutscheinen“, berichtet Noreña von den Sorgen ihrer Mandanten. „Da stehen hier plötzlich Mütter mit ihren Kindern und haben kein Geld mehr für den nächsten Monat.“
Und: Solche Notfälle nehmen zu. Die drei Anwälte können die Flut der Anfragen nicht mehr bewältigen, viele müssen sie abweisen. „Wir arbeiten an der Belastungsgrenze“, sagt die Juristin.
Quellen: Statistisches Landesamt Sachsen, Bürgeramt Leipzig, Leipziger Verkehrsbetriebe, Paritätischer Wohlfahrtsverband, soziökonomisches Panel IW Medien, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung
Recherche, Text und Konzeption: Gina Apitz; Fotos und Videos: Dirk Knofe; Schnitt: Patrick Moye, Leipzig Fernsehen; Grafik und Animation: Patrick Moye